Verliesen, Geheim- und Falltüren. Das ikonographische Bild dazu wäre Fantomas, der maskierte Gentleman-Gauner, der auf dem Cover der Buchausgabe über der Stadt Paris thront und den René Magritte in einem seiner Gemälde wieder aufleben ließ. Gepaart mit der fließenden Silhouette seines weiblichen Gegenparts Vampira im schwarzen Ganzkörpertrikot hat er die Phantasie von Generationen heimgesucht - vor allem aber die von Georges Franju, der ein Leben lang davon träumte, "Fantomas" zu verfilmen, aber wegen der teuren Rechte seine Filme immer nur mit dessen Wiedergängern bevölkern konnte.
Immerhin war "Judex" auch eine Figur des Serienmeisters Louis Feuillade, dem Franju 1963 seinen Film dann auch widmete. Wie in den Serials geht es weniger um die Geschichte, die mit der Ermordung eines Bankiers, der über Leichen geht, beginnt und mit seinem Selbstmord endet - in solchen Doppelungen und Unmöglichkeiten liegt das Wesen dieses Stoffes begründet -, sondern um Motive und ihre Verknüpfung. Gerade bei Franju sind die Einstellungen und schleichenden Zufahrten von einer so traumgleichen Prägnanz, dass man bald vergisst, danach zu fragen, wie eigentlich eines zum anderen kam. Immer wieder gerinnt die Handlung zu Bildern, die man nicht vergisst: Ein Mann mit Vogelkopf trägt auf einem Maskenball eine tote weiße Taube durch die zurückweichende Menge. Zwei Silhouetten tragen eine weiße Frau durch die Nacht und begegnen drei Schäferhunden. Eine falsche Nonne zieht sich unter ihrer weißen Haube die Lippen nach und sticht ihrem Opfer eine Spritze in den Nacken. Eine Frau treibt einen Fluss hinab. Eine schwarze und eine weiße Silhouette kämpfen über den Dächern von Paris um Leben und Tod. Der Kosmos von "Judex" ist eine Art ständiger Wachtraum, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Je festgefügter die gesellschaftlichen Konventionen und Abläufe sind, desto sicherer finden ihre Albträume Ritzen und Schlupflöcher, durch die sie den Schlaf der Bürger heimsuchen können. Die ganze Welt hat bei Franju/Feuillade einen doppelten Boden, nichts ist, was es scheint: Die Geachteten sind die Gauner, die Diener die wahren Herren, und die Toten sind nie wirklich tot. Und um dieses illusionistische Spiel auf die Spitze zu treiben, hat Franju in der Hauptrolle den amerikanischen Magier Channing Pollock besetzt, der alle naselang weiße Tauben aus dem Ärmel schüttelt.
"Judex" spielt 1914 und wirkt völlig aus der Zeit gefallen, weil seine Traumbilder so zeitlos sind. Das ist in dem zehn Jahre später entstandenen "Nuits Rouges" nicht anders, obwohl der Film in der Gegenwart des Jahres 1974 angesiedelt ist. Franju hatte den Auftrag für eine achtteilige Fernsehserie bekommen und beschloss zusammen mit seinem Autor Jacques Champreux, daraus gleichzeitig einen Kinofilm zu machen, der parallel auf 35 Millimeter gedreht wurde und bei uns als "Mann ohne Gesicht" lief.
Schon die alte Pariser Stadtansicht unter dem Vorspann weist darauf hin, wie sehr auch "Nuits Rouges" eine großstädtische Phantasie ist, die hier noch unterlegt wird mit der Suche nach dem verlorenen Schatz des Templerordens und einem verrückten Professor, der durch Gehirnamputationen eine Killerarmee heranzüchtet. Gert Fröbe spielt einen Kommissar und die Amerikanerin Gayle Hunnicut eine Vampira-Figur, deren Verfolgungsjagd auf den Dächern vor allem deshalb so ausgedehnt gezeigt wird, weil Franju die entsprechende Sequenz in "Judex" am besten gefallen hatte, er aber fand, sie sei dort zu kurz gekommen.
Dass diese Rarität zusammen mit "Judex" auf DVD aufgelegt wurde, ist ein Geschenk, das sich das britische "Eureka Video" zur fünfzigsten Ausgabe seiner vorbildlichen Reihe "Masters of Cinema" selbst gemacht hat, deren liebevoll gestaltete Booklets sich durchaus mit denen der amerikanischen Criterion-Edition messen können.
MICHAEL ALTHEN
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