Londons. Sandra, fünfunddreißigjährige Mutter des sanften Jamie und gespielt von der vorzüglichen Newcomerin Linda Henry, arbeitet im Pub sowie an ihrem Traum, selbst Besitzerin eines Nachtclubs zu werden. Ihre resolute, lebensfrohe und kämpferische Natur geht dem zartbesaiteten sechzehnjährigen Jamie gewaltig auf die Nerven, der Mühe hat, seiner stets Miniröcke tragenden Mutter zu erklären, daß er lieber Musik hört und liest, als auf dem Sportplatz unter Gleichaltrigen zu glänzen. Auch hadert er mit Tony, dem wesentlich jüngeren Liebhaber der Mutter, einem jointrauchenden Hippie und Glanzpunkt des Films. Sandra liest eines Nachts auf dem Nachhauseweg Jamies Klassenkameraden auf, den Nachbarsjungen Ste, wieder einmal grün und blau geschlagen vom Bruder und vom alkoholsüchtigen arbeitslosen Vater. Umstandslos wird er mit heimgenommen, Tony hat das Sandwich zu machen, und mit Jamie kommt er ins Bett: Kopf ans Fußende.
Ste und Jamie hatten sich schon vorher immer wieder anvisiert, stumm und irritiert. Und der Mutter entgeht völlig, wie sich aus jener Notlage sehr langsam eine Liebesgeschichte entwickelt, zögernd und vor allem voller Angst, erst vor sich selbst, dann vor den anderen. Zumal auf den schmalen Balkongängen vor den engen Wohnungen die Argusaugen der anderen nie weit sind. Die der schwarzen Leah zum Beispiel, eines in der Siedlung berüchtigten Lästermauls von achtzehn Jahren, aus der Schule geflogen und ausschließlich damit beschäftigt, wie ihr Idol Mama Cass zu werden, die Sängerin von "The Mamas & The Papas" aus den Sechzigern.
Die typischen britischen Filmtugenden, für die Namen wie Mike Leigh, Stephen Frears, Ken Loach oder Hanif Kureishi stehen, dominieren auch hier. Zu ihnen gehört vor allem ein Aufeinanderprall von scharfem Sozialrealismus und warmherzigem Humor samt unglaublich präziser Charakterisierung von Antihelden, die einem in ihrer Lebendigkeit und Menschlichkeit schnell ans Herz gehen, weil die Darsteller so bestechend realistisch sind. Ihretwegen sollte man den Film auf keinen Fall synchronisiert sehen. Das politisch, sozial und ökonomisch rauhe Klima auf der britischen Insel geht hier in Filme ein, deren Wucht, Wahrhaftigkeit und wunder Witz so nirgends sonst blühen. Kein Zufall, daß die diesjährigen europäischen Felix-Filmpreise fast ausschließlich an englische und irische Künstler gingen.
Dieser Film nun lebt vor allem von seinen Brechungen, den zahlreichen sinnlichen Kontrasten. Deprimierende, enge Betonwohnschluchten einerseits, stete lichtdurchflutete Hitze und ein naher See andererseits. Unverständnis und dumpfe Gewalt treffen unversehens auf stilvolle Menschlichkeit und Lebensfreude. Höchste verbale Aggressivität zwischen Mutter und Sohn, zwischen Sandra und Leah kann scheinbar übergangslos in bezaubernd direkten Kontakt umschlagen. Die suggestiven Bilder des Kameramanns Chris Seager tragen hier zu dem Glanz bei, der die Zeit des schwierigen Erwachsenwerdens auszeichnet. Gleiches gilt für die Musik. Sie, die fast nur aus den California-Dreamin-Klängen der "Mamas & Papas" besteht, repräsentiert die bewußte Flucht in eine helle Welt, in der jeder seinen Traum, sein "Beautiful Thing" hat. Glück ist hier eine Sache nicht der Umstände, sondern der Entscheidung.
Sandras Traum ist der eigene Pub, die Jungen wiederum haben sich mit den bedrohlichen Mysterien von Schwulenzeitschriften und Schwulen-Pubs zu arrangieren. Köstlich, wie der Schock der Mutter, als ihr die Augen aufgehen, in einen märchenhaften und sehr komischen Schluß mündet. Dies ist keineswegs nur ein Film für Jugendliche. Vielmehr sind hier, um den Wahlbriten Wittgenstein zu zitieren, Ethik und Ästhetik eins. Inneres Wachstum und Vergnügen erfährt man beim Zuschauen vor allem dann, wenn man sich ganz darauf konzentriert, wie die Beteiligten das Nebensächliche tun, was sie tun. Und sei's nur, daß sie oben an der Hochhaus-Reling lehnen, eine Zigarette rauchen und dem Film eine Pause gönnen. SIMONE MAHRENHOLZ
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