sind neben Dutzenden anderer Rollen schon in diesem Antlitz aufgegangen - und jedes Mal waren die Züge danach wieder so glatt wie zuvor, allenfalls noch etwas voller, ein zähes Pergament, bereit fürs nächste Abenteuer. Diesmal war es nicht eine Romanfigur, sondern gleich Balzac selbst, in den der Darsteller sich hineinversetzte. Mit dessen konvulsiver Ausdrucksart verrät Depardieu ohnehin seit einigen Jahren eine besondere Verwandtschaft. Für das zweiteilige Schriftstellerporträt "Balzac" hat die private französische Fernsehanstalt TF1 in deutscher und italienischer Koproduktion ein Gesamtbudget von 62 Millionen Franc bereitgestellt und damit die erste Sensation in der neuen Fernsehsaison gelandet.
Vor einem Jahr schon hatte die Serie "Der Graf von Monte-Christo" in Frankreich zwölf Millionen Zuschauer vor den Bildschirm gebannt und war rund um den Globus verkauft worden. Warum sollte das Glück mit derselben Mannschaft nicht neu versucht werden? Depardieu tritt wieder in der Hauptrolle auf, Josée Dayan fungiert als Regisseurin, Didier Decoin als Drehbuchautor. Kein anderer französischer Schauspieler habe das Format, ein solches Projekt weltweit unters Volk zu bringen, schwärmt der Produzent Jean-Pierre Guérin. Ein Schriftstellerporträt zur Hauptsendezeit gleich nach den Nachrichten in einer auf Einschaltquoten fixierten Kommerzanstalt wie TF1 - die Sache hätte ohne die Starbesetzung verwundert. Diesen auf ein breites Publikum abzielenden Bildungsanspruch im üppigen historischen Kostüm hätte man eher auf einem großen öffentlichen Sender wie France 2 erwartet, hierzulande eher im ZDF statt beim Privatsender Sat.1, der den Film ausstrahlen wird. Bei France Télévision jedenfalls ließ man verlauten, beim Finanzpoker um solche Monumentalproduktionen wolle - sprich: könne - man nicht mehr mitmachen.
So verzichtet das Staatsfernsehen nach "Monte-Christo" und "Balzac" nun auch auf das nächste Literaturvermarktungsprojekt der Depardieu-Clique: auf "Die drei Musketiere" nach Alexandre Dumas, die ab nächsten Monat gedreht und im übernächsten Jahr ausgestrahlt werden sollen. Da Gérard Depardieu aber nicht nur an Selbstdarstellung und gutem Verdienst interessiert ist, sondern seinen Publikumserfolg auch gern kulturelle Nebenblüten treiben sähe, hat er sich für diese nächste Produktion einen kleinen Deal ausgedacht. Jeder künftige Käufer der "Drei Musketiere" muss zusätzlich ein paar Stücke aus dem klassischen Theaterrepertoire - zum Beispiel Racines "Bérénice" und etwas von Molière - miterwerben. Die entsprechenden Sendungen stammen aus einem Projekt, das die Schauspielerin Carole Bouquet in Zusammenarbeit mit dem französischen Erziehungsministerium ausgeheckt hat. Depardieu bringt die "kulturelle Ausnahme" an den Pokertisch.
Ein Stück weit praktiziert er sie aber auch selbst auf dem Bildschirm. Der neue Balzac-Film ist in seiner Art in vielen Teilen eine positive Überraschung. Mag er die unausschöpfliche Fülle des Schriftstellerlebens auch hauptsächlich auf die pathetischen Frauenbeziehungen - Balzacs Mutter, Madame de Berny, Laure d'Abrantès, Eva Hanska - verkürzen, so lässt er das Zentralthema der Literatur doch nicht außer Acht. Gleichsam in Kursivschrift ist es als Nebenhandlung, Kulissendetail, Dialoganspielung immer nebenher im Bild. Jeanne Moreau spielt Charlotte Laure, Balzacs Mutter, mit einer Mischung aus Niedertracht, Anhänglichkeit und rücksichtslos gesundem Menschenverstand, der auf ihren Gesichtszügen bald seidenweich, bald marmorhaft schillert. Virna Lisi zieht sich als alternd liebende Madame de Berny melancholisch in erblassende Entsagung zurück, Fanny Ardant sprudelt als Madame Hanska aus dem fernen Odessa - etwas zu quirlig - ins Schriftstellerleben hinein.
Balzac selbst trottet dagegen in Depardieus schwerer Gestalt breitspurig durch die Salons und Verlegerbüros, mit fettigem Haar und fettem Lachen, den Pariser Kleidungsmoden immer um drei groteske Übertreibungsstufen hinterher, aber mit seiner schöpferischen Einbildungskraft allen anderen weit voraus. Den über Balzacs krude Talentanflüge spottenden Salonliteraten Eugène Sue belehrte Victor Hugo: Er wird sie schreiben, die großen Bücher, die uns alle in den Schatten stellen werden, mit seinen dicken, schmierigen Wurstfingern wird er sie schreiben. Wie diese Finger über die verklecksten Seiten tanzen, in billigen Gastwirtskellern trübe Suppe löffeln und den feinen Damen die Bluse von der weißen Brust knöpfen: Dieser Antikonformismus schräg durchs ritualisierte Sozialgefälle im Zeichen der Literatur ist eine Erfolgsformel literarischer Kostümfilme, mit denen Frankreich seit einigen Jahren so große Verkaufserfolge im Ausland erzielt. Und darin gefällt es sich gut.
JOSEPH HANIMANN
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