individuelle Dramen münden. Ihre Lebensbilanz - man darf das trotz der beeindruckenden Vitalität der Grande Dame des österreichischen Journalismus, die heute Asylbewerbern Deutschlektionen gibt, ruhig so nennen - hält stets die Balance zwischen ihrem eigenen Schicksal und dem relativierenden Blick auf die Historie.
Mag sein, dass Barbara Coudenhove-Kalergi diese geschichtliche Vogelschau von ihrem Herrn Papa geerbt hat. Der urteilte, als die Familie 1945 zu Fuß und ohne Gepäck in Richtung deutscher Grenze abgeschoben wurde, mit adligem Stoizismus: Die Historie habe die Familie vor langer Zeit nach Böhmen hineingespült, nun werde sie eben herausgespült. Ansonsten wirkt der Vater der Autorin freilich mit seinem unheroischen Opportunismus gegenüber der Naziherrschaft, mit seinem Dégout vor jüdischen Schwägerinnen und einem ständischen Überlegenheitsgefühl gegenüber der tschechischen Mehrheit in Prag recht unsympathisch. Ohne Beschönigung schildert die Autorin, die im Krieg immerhin ihre Schulzeit im Familienschloss Breznitz mit Dienerschaft absolvieren konnte, die tragische Segregation der Deutschböhmen von den deutschsprachigen, später ausgerotteten Juden sowie den Tschechen, deren wunderschönes Idiom die aristokratische Verwandtschaft als "Dienstbotensprache" abzutun pflegte. Genau diese Ignoranz gegenüber der Mehrheit legte den Grundstein für die Vertreibung. Von ihrem Onkel Richard, genannt "Dicky", der als hellseherischer Gründer der Paneuropa-Union lange auf verlorenem Posten einen Gegenentwurf zu diesem verheerenden Nationalismus vertrat und heute als Urgestein der europäischen Einigung gilt, ist dann aber leider kaum die Rede.
Recht mittellos im abgelegenen Salzburger Lungau in einem Familienjagdhaus gelandet, bekam die Autorin im Nonneninternat einen kargen Freitisch. Es war ein Abstieg vom Großgrundbesitz zur Volksküche, beileibe nicht in allem ein Verlust. Gerade die dumpf-katholische Verdrängungsmentalität im Österreich der Zweiten Republik ging dieser wachen Frau zunehmend auf die Nerven: "Weder auf der Universität noch in den Redaktionen, in denen ich arbeite, kommen die Ereignisse zwischen 1938 und 1945 vor. Judenverfolgung? Denunziationen? Arisierungen? Auschwitz? Mauthausen? Die Österreicher, die an alldem beteiligt waren? Fehlanzeige."
Wo aus Furcht vor jeder Kontaminierung durch die große Westmark sogar die Deutschlektionen im Zeugnis unter dem neutralen Rubrum "Unterrichtssprache" auftauchen mussten, wo zugleich aber langlebige nationalsozialistische Kulturgebräuche gerade im Schulwesen stillschweigend geduldet wurden, fühlte sich Coudenhove-Kalergi in ein alpines Liliput verschlagen: "Ein ziemlich spießiges Zwergenland noch dazu." Dem Mief der provinziellen Proporzgesellschaft entzieht sich die Autorin durch ihr Studium in Wien, das mit seinem Abglanz von kaiserlicher Grandeur, vor allem aber mit einer quicklebendigen Kulturszene um Künstler wie Hrdlicka und Rainer, Denker wie Jungk und Anders, Schriftsteller wie Hilde Spiel und Thomas Bernhard eine Generation lang ein Abendrot von Weltformat besaß - während angelsächsische Diplomaten die ausgeblutete Politszene bereits gnadenlos kommentierten: In der Hofburg werde die große Oper jetzt von den Komparsen gesungen.
Den großen Bruno Kreisky, den sie auf der legendären Israelreise begleitete, nimmt Coudenhove-Kalergi naturgemäß vom harschen Urteil aus. Seine Rolle, vergleichbar mit der Willy Brandts in Deutschland, als Erzieher eines erziehungsunwilligen Volkes müsse noch geschrieben werden. Und noch ein anderer Vertreter des faszinierenden, aber hingemordeten Judenlebens in Wien wurde der Autorin schicksalhaft: Sie heiratete den Résistancekämpfer und Kommunisten Franz Marek, der als galizischer Zuwanderer unter dem schönen Namen Ephraim Feuerlicht noch das brodelnde jüdische Leben im Zweiten Bezirk erlebt hatte. Weiter als mit dem bedürfnislosen Humanisten, für den in Frankreich das Hinrichtungspeloton schon bestellt gewesen war, konnte sich Barbara Coudenhove-Kalergi nicht von der etwas hochnäsigen katholischen Adelswelt ihrer Wurzeln entfernen.
Besonders schön - und immer mit etwas altösterreichischer Ironie getränkt - sind die Einschätzungen der Kommunistenszene, die mit verschrobenen Exilanten und traumatisierten KZ-Überlebenden, mit Träumern und Ökonomen, Künstlern und Mimen, Apparatschiks und Spitzeln sicher alles andere als eine Idylle war - aber auch niemals langweilig. Die Autorin schildert milde, aber wach die Reisen zu italienischen Gesinnungsgenossen, die spielend ihre Ideologie mit einer großbourgeoisen Lebensweise vereinbarten und sich wie die legendäre Rossana Rossanda die handgemachte Pasta der Köchin von behandschuhten Dienern auftragen ließen. Dass ihre und ihres Mannes eurokommunistische Utopien in Prag und Danzig nicht vom Kapitalismus, sondern von den Moskauer Panzergenossen erledigt wurden, bekam die Autorin dann als ORF-Korrespondentin für den "Ostblock" mit.
Hier sind die Passagen besonders anrührend, in denen sie Tschechiens "Samtene Revolution" rund um Václav Havel fast schon aus der Innenperspektive und mit berechtigter Rührung schildert. Doch es gibt Grenzen: Dass sie, selbst eine Vertriebene, eines Tages wieder in ihrem Prag würde heimisch werden können - diese Hoffnung muss die romantische Realistin am Ende dann doch begraben: "Die Vertreibung war endgültig." Auch die anderen, auf zahlreichen Reisen fußenden Psychogramme der kommunistischen Regime in Ungarn, Polen und Jugoslawien sind stimmig, mit Blick auf die Kleine-Leute-Schicksale geschrieben und ohne ideologisches Triumphgeheul. Besonders die arg preußische, viel "zu deutsche" DDR schildert die Autorin treffend als spurlos untergegangene Symbiose von Kaserne und Biedermeier.
Diese bemerkenswerte Frau, die sich - fast wider besseres Wissen - wegen ihres Faibles für Graswurzelkatholizismus und linke Sozialutopien als "rosarotes Kerzlweiberl" bezeichnet, hat sich in ihrer neuen Heimat auch in Bürgerbewegungen gegen Haider, gegen Armut, gegen Ausländerfeindlichkeit in vorderster Linie bewährt. Bei allem Aufwallen deutscherseits gegen wohlfeilen österreichischen Opportunismus im Schlagschatten der "Piefkes" - die guten Seiten der Zweiten Wiener Republik mit ihrer Hilfe für Ungarn 1956, für Jugoslawien nach 1992 und manch großem zivilgesellschaftlichem Engagement sind in einer komplexen Persönlichkeit wie dieser rot-schwarzen Aristokratin geradezu verkörpert.
Fast wie einen Milos-Forman-Film lässt die Autorin ihr Lebenspanorama einer rauhen Epoche mit der Taufe eines Großneffen auf dem einstigen Familiensitz zu Breznitz in Böhmen heiter als Landpartie ausklingen. Bei Knödeln, Buchteln und Kolatschen finden sie ganz selbstverständlich zusammen: die heutigen Tschechen und Österreicher, die einstigen Adligen und Domestiken, die Kommunisten und Katholen, die Jungen und die Alten. Das, was so blutig wurde, hätte doch so einfach sein können. Doch ein mutloses Fazit wird nicht gestattet. Ihre idealistischen Kinderträume unterm Stuckhimmel der Breznitzer Schlosskapelle wünscht Barbara Coudenhove-Kalergi jetzt den kommenden kleinen Europäern.
DIRK SCHÜMER
Barbara Coudenhove-Kalergi: "Zuhause ist überall". Erinnerungen.
Zsolnay Verlag, Wien 2013. 335 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main