vorzüglichen Übersetzung erschienen.
Dass die russische Kultur, im Unterschied zur westeuropäischen, sich nicht als universell begreift, schlägt sich auch im Musiktheater nieder: etwa in patriotischen Sujets, wie man sie insbesondere bei dem "mächtigen Häuflein" national gesinnter Komponisten um Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow findet. In deutschen, französischen oder italienischen Opern treten politische Feindfiguren manchmal als orientalische Despoten auf, ein national stilisiertes Idiom fehlt ihnen jedoch, wofür Parin auf Hauptwerke von Rossini, Mozart, Verdi und Puccini verweist. Russische Musikdramen hingegen handeln häufig vom Krieg des eigenen Volkes gegen Invasoren.
Ob Michail Glinkas "Leben für den Zaren", Alexander Borodins "Fürst Igor" oder Rimski-Korsakows "Unsichtbare Stadt Kitesch", der Gegner brilliert dabei auf der Bühne mit effektvollen, oft feurig synkopischen Tanznummern, vorzugsweise in ungeraden Metren. Den Russen sind hingegen eher geradlinige Solo- und Chorgesänge in Vierermetren zugeordnet. Aus solchen klanglichen Charakterisierungen des Anderen spricht sowohl Bewunderung für eine fremde Kultur wie auch die Warnung vor deren Sirenentönen. Dabei kann Exotik durchaus auch Europa bedeuten, etwa wenn in Mussorgskis "Chowanschtschina" der Titelheld in persischen Tänzen schwelgt, die klingen wie französische Ballettmusik.
Ein weiteres Merkmal ist die häufige Nähe zur sakralen Sphäre, selbst bei dem "Westler" unter den russischen Komponisten, Peter Tschaikowsky. Seiner "Jungfrau von Orléans" liegt Friedrich Schillers Tragödie zugrunde. Doch Tschaikowsky macht aus der Heldin eine russische Heilige, ekstatisch fromm und leidensfähig, die freiwillig den Scheiterhaufen besteigt. Auch Mussorgskis "Chowanschtschina" mündet in einen religiösen Akt, die Selbstverbrennung der Altgläubigen, die so ihre Seelen retten wollen. Parin legt Wert darauf, dass das Flammenmysterium in beiden Fällen eine österliche Qualität habe und auch Auferstehung bedeute, im Gegensatz zu den vor allem rächenden Flammen am Ende von Richard Wagners "Der Ring des Nibelungen".
In einer luziden Gegenüberstellung des Wagnerschen "Parsifal" mit dem "russischen Parsifal" von Rimski-Korsakow, nämlich dessen Mysterienspiel von der "Unsichtbaren Stadt Kitesch", arbeitet Parin die unterschiedlichen religiösen Weltmodelle heraus. Bei Wagner ist der überschaubare Raum des Bühnenweihfestspiels klar unterteilt in die heilige Zone der asketischen Gralsritter und die des bösen Klingsor mit seinem Zaubergarten. Bei Rimski-Korsakow hingegen verkörpert eine mildtätige Jungfrau die Harmonie mit der Natur. In der grenzenlosen Ebene von "Kitesch" kommt der Überfall der Tataren aus dem Nichts, Böse und Gut vermischen sich. Das heilige Russland, die Stadt Kitesch, wird vom See Swetlojar überflutet und so der historischen Zeit entrückt. Auch die Heldin Fewronia kann sich nur retten, indem sie sich aufmacht in ein Jenseits, das möglicherweise jenseits ihrer Phantasie nicht existiert.
Dass in Russland die Herrschaft des Menschen über den Menschen durch Gesetze nur wenig gebändigt wird, merkt man auch den Opern an. Historische Entwicklung erscheint fast durchgehend leidvoll. Im alten vormongolischen Russland, wie es etwa Borodins "Fürst Igor" und Glinkas "Ruslan und Ljudmila" beschwören, verkörpert der Machthaber noch die christliche Tugend, die freilich von außen angegriffen wird. Im Moskowitischen Zentralstaat, den Mussorgski im "Boris Godunow" und in der "Chowanschtschina" vergegenwärtigt, bewahrt der Zar beziehungsweise Fürst zwar die sakrale Ordnung, bringt der politischen aber Blutopfer dar und endet selbst tragisch. In der Romanow-Epoche schließlich, die in der zweiten Hälfte von "Chowanschtschina", aber auch im Finale von "Ein Leben für den Zaren" anbricht, ist der Herrscher ein säkularer Machtgötze geworden.
Parin schöpft aus einem gewaltigen Fundus von Kenntnissen. Virtuos vergleicht er Sängerdarsteller, Inszenierungen, macht Ausflüge in Philosophie und Psychoanalyse. Wunderbar ist sein Hymnus auf die Figur der Tatjana aus Tschaikowskys "Eugen Onegin". Im Gegensatz zu großen Liebesgeschichten der europäischen Literatur, in denen die Leidenschaft immer auch physisch vollzogen wird, verherrlicht die klassische russische Oper gern die Einsamkeit des Eros. Tatjana liebt Onegin leidenschaftlich. Doch sie bringt deswegen nicht die gesellschaftliche und eheliche Ordnung zum Einsturz, sondern macht ihre Probleme mit sich selbst aus.
Schade nur, dass in Parins ausgreifenden Textanalysen die der musikalischen Texte, der Partituren, eine eher untergeordnete Rolle spielen. So muss man hoffen, dass auch das Buch "Fünf Opern und eine Symphonie" des russisch-amerikanischen Slawisten Boris Gasparow, der die Musiksprache der wichtigsten russischen Opern beispielhaft erschließt, eines Tages ins Deutsche übersetzt wird.
KERSTIN HOLM
Alexej Parin: "Paradigmen der russischen Oper".
Aus dem Russischen von Anastasia Risch und Christiane Stachau. Hollitzer Verlag, Wien 2016. 296 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main