ist zweiundzwanzig, hat die Schule längst geschmissen, schaut mit ihrer verwahrlosten Mutter alte Spielfilme mit Paul Newman und wird von ihrem Freund Jimmy regelmäßig misshandelt. Zu dessen bevorzugten Gesprächsthemen gehören Johnny Cash, Adolf Hitler und Sitting Bull; am liebsten verbreitet er rassistische Ansichten, angeheizt von Speed, Skinhead-Kameraden und Alkohol. Außerdem will er irgendwann einmal einer Linie nach Norden folgen, besagter Northline eben, wobei er ironischerweise genau die Richtung einzuschlagen gedenkt, in der auch die ihm verhassten mexikanischen Einwanderer das gelobte Land vermuten.
Allison kann sich Jimmys Einfluss kaum entziehen: Sie trinkt, gerät oft in Panik, hyperventiliert und verletzt sich selbst; zumindest für das Hakenkreuz-Tattoo, das sie sich im Vollrausch hat stechen lassen, schämt sie sich inzwischen. Als Allison schwanger wird, tritt sie endlich die Flucht nach Reno an. Ihre Ängste, Albträume und schrecklichen Erinnerungen werden sie zwar begleiten, aber die Menschen, denen sie dort und unterwegs begegnet, werden sie verändern, unterstützt von Paul Newman, der ihr in aussichtslosen Situationen im Traum erscheint.
Es ist bemerkenswert, mit welch einfachen Worten Vlautin selbst Nebenfiguren, etwa einen Frettchen züchtenden, depressiven Hilfskoch, treffend charakterisiert. Oder den alten T. J. Watson, der in seinem Sattelschlepper seiner Frau zuliebe regelmäßig eine obskure Radiosendung hört, damit er später mit ihr darüber reden kann. Sie tun dadurch etwas gemeinsam und sind doch meilenweit voneinander entfernt. Nur wenige Sätze genügen Vlautin - geschult am lakonischen Duktus eines Raymond Carver -, um ganze Biographien anzudeuten, ja um eine auf den ersten Blick unspektakuläre Vita im Vorbeigehen auf den Punkt zu bringen und um Verständnis für sie zu werben.
Seine Sympathie gilt den Verlierern, den scheinbar schwachen Durchschnittsmenschen, den verlorenen Seelen zwischen Truckstop, Diner und Bingosalon. Es sind Gestalten, die im Leben oft zu kurz gekommen sind, die vom Vater oder von ein paar zufällig vorbeikommenden Schlägern verprügelt wurden, sich einmal wieder aufrappeln können und ein andermal ihre Demütigung rücksichtslos weitergeben, um in der gesellschaftlichen Hackordnung wenigstens nicht mehr ganz unten zu stehen, weil es da immer jemanden gibt, dem es noch schlechter ergeht.
An einer sozialromantischen Verklärung seiner ambivalenten Protagonisten ist Vlautin also nicht gelegen; er verschweigt nie ihre dunklen Seiten und entkommt so der Stilisierung vermeintlich anständiger und aufrichtiger Pechvögel. Vielmehr geht es ihm darum, zu zeigen, wie sich die häufig träge und selbstmitleidige Allison, die ihren Sohn schließlich zur Adoption freigibt, wider Erwarten ein Leben erarbeitet, das mindestens einen Deut besser ist als das, was sie hinter sich gelassen hat.
Im Fluss der Erzählung gelingen dem Songschreiber und Autor, der mittlerweile in Portland, Oregon, lebt, jedoch nicht durchgängig unkonventionelle und glaubhafte Darstellungen; manche Figur bleibt blass und wird nur allzu flüchtig gestreift. Zu deutlich treten Opfer-Täter-Schemata hervor. Dennoch gibt Vlautins Roman einen aufschlussreichen Einblick in eine Welt jenseits des amerikanischen Traums. Und immerhin: Das Ende von "Northline" lässt Raum für einen Funken Hoffnung, aber auch für jede Menge Zweifel.
ALEXANDER MÜLLER
Willy Vlautin: "Northline". Roman. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Mit einem Nachwort von Pedro Lenz. Berlin Verlag, Berlin 2009. 204 S., br., 19,90 [Euro].
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