Wunsch der Schüler nach Anerkennung sich erfüllen wird, nur weil die Etiketten an den Schultoren ausgewechselt wurden. Eher schafft der demografische Wandel und damit einhergehender Mangel an Lehrlingen den Druck, den es braucht, um diese große Gruppe von Schülern in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und die beschämende, fortdauernde Kapitulation vor ihren gravierenden Wissenslücken zu beenden.
Wellgraf begleitet seine deklassierten Jugendlichen mit großer Empathie. Doch die kargen Auskünfte zu ihrer familiären Situation und das Fehlen von Erziehungsmustern, vor allem bei den Einwandererkindern, und die recht einseitige Schilderung schulischer Misserfolge seiner Akteure durch diese selbst ergeben allenfalls ein oberflächliches Bild. Ein überzeugendes Porträt von resignierten Pädagogen, die hier nur als Beispiele für Verachtungsproduktion und Angehörige der herrschenden Klasse herhalten müssen, fehlt. Eine der von ihm beschriebenen Klassen im Wedding trifft sich montags immer zum gemeinsamen Frühstück. Was sich Lehrer davon versprechen, erfährt man nicht. Wellgraf nimmt es nur zum Ausgangspunkt für seine Beschreibung aggressiver Männlichkeit und betonter Geschlechtertrennung, die er einseitig als Reaktion auf die prekäre Lebenssituation wertet.
Wellgraf gleicht das subjektive Erleben immer neuer Ungerechtigkeiten - echter und auch nur so gefühlter -, die Zukunftsängste seiner Akteure und ihr Scheitern, etwa in der Schule oder bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, mit allen möglichen Theorien zum Oben und Unten, zur Stigmatisierung und den "Mechanismen machtbedingter Ausschließung" in der Gesellschaft ab. Er räumt seinen "subjektiven Blick auf die Wirklichkeit" zwar ein, doch spätestens seine Vergleiche der unterschiedlichen Kulturtechniken von Hauptschülern und Berliner Gymnasiasten sind vor allem ideologisch und wirken recht bemüht.
Sein Rekurs zum aggressiven Boxerstil, "eine symbolische Sprache des Protests im Kontext von verweigerter Anerkennung", den viele männliche Hauptschüler favorisieren, und ihr cooles Posieren, ebenfalls "eine mögliche Reaktionsweise" auf Anerkennungsmangel, sind für ihn Beispiele antibürgerlicher Gegenkultur, die aber auf der anderen, der Sonnenseite des Lebens, gebraucht würden, um das bürgerliche Idealbild zu konturieren. Um dieses zu beschreiben, stellt er Gymnasiasten, die - anders als seine Protagonisten - in einem bürgerlichen Viertel Berlins aufwachsen, extrem suggestive Fragen und konstruiert aus ihren arglosen Antworten den herrschenden Lebensstil.
Einem dieser Mädchen, aus einer "wohlhabenden Familie", wird das Foto dreier Neuköllner Jungen (Frisur Boxerstil) gezeigt. Ihre Antwort: "Ne, das sind so welche, mit denen ich nichts zu tun haben will . . .". Man erfährt nicht, ob sie mit solchen Jungen schon einmal zu tun bekam. Aber sie gibt an, Angst vor ihnen zu haben, in Berlin nicht ganz unbegründet. Obwohl diese Foto-Jungen doch, wie der Autor schreibt, gar "keine furchteinflößenden Gesten vollziehen". Schlussfolgerung: Mädchens Selbstbild fußt auf der "Abwertung anderer Personengruppen", also auf Verachtung. Ein zweites Foto wiederum zeigt "Leute, mit denen ich was machen würde". Nett und offen schauten die, fügt das Bürgermädchen noch hinzu. Eine Mitschülerin findet statt der von Hauptschülern favorisierten Goldketten schlichte Steinketten "einfach schön". Auch diesem Bekenntnis liege, so Wellgraf, eine "Verinnerlichung von klassenspezifischen Wahrnehmungsmustern" zugrunde.
Wellgraf beschreibt Hauptschüler durchweg als Opfer der Verhältnisse und traut vor allem keinem zu, aus eigener Kraft auszubrechen aus dem Teufelskreis der Versager - auch das ist eine subtile Art der Verachtung.
Stefan Wellgraf: "Hauptschüler". Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung.
transcript Verlag, Bielefeld 2012. 334 S., br., 24,80 [Euro].
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