lauter Dinge, deren Brisanz und Bedeutsamkeit und Prägekraft einem nicht unbedingt auffallen, wenn man zu jener Mehrheit gehört, die vorgibt, wie was auszusprechen ist und auszusehen hat.
Dinge sind das aber, die für die anderen, für all jene also, die nicht zu dieser Mehrheit gehören, lebensentscheidend werden, ob sie es wollen oder nicht. Eine Frisur kann zum Beispiel sagen: Dieser Person darf man nicht trauen. Ein Name kann sagen: Aufgepasst, was diese Person in Wirklichkeit will. Ein Akzent kann plötzlich signalisieren: Achtung, diese Person ist keine von uns. Und wer die Mehrheit ist und wer die Minderheit, das liegt oft nur ein paar Flugstunden auseinander.
"Americanah" heißt der Roman von Chimamanda Ngozi Adichie, 600 Seiten lang ist er, durch die man mehr oder weniger jagt, und auch der Puls jagt dabei, man will anderen ständig davon erzählen, was man gerade gelesen hat: weil das Buch nicht nur wunderschön geschrieben ist, sondern in fast jedem Kapitel etwas erklärt über die Welt von heute, das man so noch nicht gesehen hat. Weil man manche Dinge eben nur schwer erkennt, wenn man die Perspektive nicht endlich mal wechselt.
Diese Woche erscheint "Americanah" endlich auch auf Deutsch. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien wurde das Buch gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet. "Americanah" spielt einerseits in Nigeria, andererseits an der Ostküste der Vereinigten Staaten und in London. Es spielt im Auswanderermilieu von Lagos und im Einwanderermilieu von London und Brooklyn und Philadelphia. Und es spielt heute, in den letzten 35 Jahren, Barack Obama zum Beispiel tritt auf.
"Americanah" - das ist übrigens der Ausdruck für Nigerianer, die nach einem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten in ihre Heimat zurückkehren - ist dabei vieles auf einmal: eine ziemlich romantische Liebesgeschichte. Ein Porträt Nigerias, das ja gerade zur wichtigsten Wirtschaftsnation Afrikas aufgestiegen ist. Ein Campusroman. Eine lustig-böse Beschreibung der englischen und amerikanischen Elite. Aber vor allem ist es ein Plädoyer, immer wieder einen Schritt zurück- und beiseitezutreten, um den Ort genauer zu betrachten, von dem aus man die Welt betrachtet, und zu erkennen, dass dieser Ort immer auch nur im Verhältnis zu den anderen Orten steht, von denen aus der Rest dieser Welt auf die Welt schaut.
Chimamanda Ngozi Adichie, geboren 1977, erzählt die Geschichte eines jungen Paares aus der Oberschicht von Lagos, das hält das Buch zusammen: Ifemelu und Obinze lernen sich in der Schule kennen, sie gehen gemeinsam aufs College, aber die ständigen Streiks ihrer unterbezahlten bis gar nicht bezahlten Professoren zermürben sie. Dann bietet sich Ifemelu die Chance, in Amerika zu studieren, ihr Freund Obinze - der Amerika aus der Ferne über alles liebt - muss erst noch bleiben, wo er ist. Er freut sich aber für Ifemelu, er reist in Gedanken mit, in der Hoffnung, irgendwann nachzukommen (er wird es zumindest bis nach London schaffen, als Illegaler, und schließlich wieder ausgewiesen).
Doch in dem Augenblick, als Ifemelu ihren Fuß auf amerikanischen Boden setzt, wird sie jemand anderes. Eben noch spielte ihre Haut keine Rolle. Ihre Haare. Ihre Stimme. Eben noch gehörte sie zu den Privilegierten ihres Landes. Jetzt ist Ifemelu schwarz, und das ist in Amerika etwas anderes als in Nigeria. Eben war die Klasse noch entscheidend, der jemand angehört, jetzt ist es die Rasse.
Das verändert Ifemelus Leben, ihre Liebe zu Obinze, es verändert alles. Plötzlich sind ihre Haare, ihre Stimme, ihre Wortwahl politisch geworden. Sie spricht zwar Englisch, erlesenes Englisch sogar, aber im falschen Sound. Wenn sie vorankommen will in Amerika, wird ihr bedeutet, sollte sie sich besser schnellstens ihren Afro glätten lassen. Ifemelu taumelt, ihre Selbstsicherheit schwindet, und als sie auf der verzweifelten Suche nach einem Nebenjob schließlich einem Mann dabei hilft, sich zu entspannen - wie der Mann das nennt, wofür er ihr hundert Dollar bezahlt -, stürzt ihre Welt komplett ein. Sie zieht sich zurück. Bricht den Kontakt zu Obinze ab. Ihr Leben kommt zum Stillstand.
Aber nur kurz. Dann rettet sie, Deus-ex-Machina-artig, ein Babysitterjob bei einer sehr reichen, weißen Familie aus der Depression. Und ein Blog: Ifemelu beginnt zu schreiben. Eine Art Ratgeber, in dem sie die tausend Demütigungen eines durchschnittlichen Tages in der freien Welt verarbeitet. In dem sie die Wucht der Zurückweisung zum Gegenangriff nutzt.
"Amerika für nicht-amerikanische Schwarze", so sind ihre Texte meistens betitelt, und dann folgt, zum Beispiel: "Lieber nicht-amerikanischer Schwarzer, wenn du dich dafür entscheidest, nach Amerika zu kommen, wirst du schwarz. Hör auf zu sagen, ich bin Jamaikaner und ich bin Ghanaer. Amerika ist das egal." Oder: "Wenn du an einem Elitecollege studierst und dir ein junger Republikaner erklärt, dass du deinen Studienplatz nur aufgrund positiver Diskriminierung erhalten hast, sag kein Wort zu den perfekten Noten aus der Highschool. Weise ihn stattdessen vorsichtig darauf hin, dass die größten Nutznießer positiver Diskriminierung weiße Frauen sind."
Der Blog macht Ifemelu finanziell unabhängig ("Americanah" ist also auch ein bisschen ein Märchen). Seine Einträge tauchen immer wieder im Text auf. Ansonsten hat Chimamanda Ngozi Adichie einen nahezu klassisch erzählten Roman geschrieben, in sieben Teilen und fünfundfünfzig Kapiteln. Er beginnt in Nigeria und endet dort wieder: Dreizehn Jahre hat Ifemelu in Amerika verbracht, sie hat sich nach ihrem Bruch mit Obinze in einen weißen höheren Sohn namens Curt verliebt und ihn irgendwann betrogen, danach lebt sie mit Blaine zusammen, einem Afroamerikaner, dem sie aber auch irgendwann das Herz bricht.
Die letzte Leidenschaft, die die beiden zusammen erleben, ist der Wahlsieg von Barack Obama 2008. Etwas später verlässt Ifemelu auch Blaine und entschließt sich, nach Lagos zurückzukehren. Als "Americanah". Dort angekommen, fremdelt sie wieder mit den anderen, die auch zurückgekehrt sind, und genauso mit den alten Freunden, die nie weg waren, und spätestens hier wird klar, dass Ifemelu zwar ein Gespür für die Distinktionsgewinne und Distinktionsverluste zwischen den Rassen hat, für die Gemeinheiten gutgemeinter Worte und den versteckten Hass: Was sie aber wirklich umtreibt und rastlos macht, ungerecht und anfällig, ist ihre unerfüllte Liebe zu Obinze. Der ist ein erfolgreicher Geschäftsmann in Lagos, verheiratet mit Kind, als Ifemelu sich endlich bei ihm meldet.
Chimamanda Ngozi Adichie wechselt selbst zwischen Amerika und Nigeria hin und her. Sie war etwa so alt wie ihre Figur Ifemelu, als sie zum Studium nach Amerika ging, sie hat an Ivy-League-Universitäten studiert wie die Figuren im Buch und früh zu schreiben begonnen, Theaterstücke, Gedichte. "Americanah" ist ihr dritter Roman, ihr zweiter, "Die Hälfte der Sonne", ist gerade verfilmt worden.
In Interviews hat Adichie von den Problemen erzählt, die ihr nigerianischer Pass mit sich bringt: In diesem Frühjahr wollte sie zum Beispiel nach Kopenhagen einreisen, der Grenzbeamte am Flughafen ließ sie beiseitetreten und hat sie dann ausgiebig befragt, obwohl Adichie beteuerte und ja auch nachweisen konnte, dass sie Schriftstellerin ist. Später habe sich ihr Gastgeber entschuldigt und erklärt, der Beamte müsse geglaubt haben, sie sei eine Prostituierte. Sie überlege also jetzt, sagt Chimamanda Ngozi Adichie und lacht dabei, man kann das Interview im Internet anschauen, sich doch um die amerikanische Staatsbürgerschaft zu bewerben, es reiche dann auch mal, Material zum Schreiben habe sie ja inzwischen genug recherchiert.
Und aus diesem Material hat sie "Americanah" geformt. Der zentrale Konflikt ihres Buchs ist der zwischen schwarzen Afrikanern und amerikanischen Schwarzen, einmal beschreibt Adichie ein Seminar an Ifemelus College, wo die Studenten, darunter schwarze Amerikaner und Afrikaner, gemeinsam das Sklavendrama "Roots" anschauen und dann ein Streit ausbricht, warum im Video das Wort "Nigger" überpiepst wurde, ein Streit, den die weiße Professorin kaum steuern kann, weil er an Verabredungen rührt, die zu treffen schon schwer genug war. Aber für die Afrikaner im Raum ist die amerikanische Bürgerrechtsbewegung eben nicht die eigene Geschichte. Ihr Kapitel ist ein anderes, nicht weniger schmerzhaftes in der Geschichte der Verteilung der Welt.
"Americanah" erzählt auch daraus, von der "bedrückenden Lethargie der Chancenlosigkeit", die junge Afrikaner in den Westen treibt, eine Chancenlosigkeit, die genauso weh tun kann wie Hunger, genauso gefährlich sein kann wie Krieg. Vor allem aber beschreibt Chimamanda Ngozi Adichie - und es grenzt an ein Wunder, mit wie viel Humor ihr das gelingt - den Schwebezustand, die Haltlosigkeit, das Nirgendwo der Auswanderer und Einwanderer, den Wunsch, dazuzugehören, dafür aber nicht alles aufzugeben, was man mitgebracht hat. Sie erzählt also von dem ständig neu zu versöhnenden Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit, vom Ringen um Selbstbestimmung und Identität. Irgendwann entscheidet sich Ifemelu, ihre Haare nicht mehr chemisch zu glätten und wieder so zu reden, wie sie es gelernt hat. Die Freiheit, die sie an dem Tag spürt, macht sie schwindlig.
TOBIAS RÜTHER
Chimamanda Ngozi Adichie: "Americanah". Übersetzt von Anette Grube. S. Fischer, 608 Seiten, 24,99 Euro
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