Archipel-GULag-Dossier bis zur Geschichtsobduktion im Roten Rad machte ihn zur einsamen moralischen Autorität, zum Sprecher eines Heeres von Mißhandelten und zum unverdaulichen Reizkörper im Sowjetstaat, der ihn 1974 ausspie. Die folgenden zwanzig Jahre im Exil gaben dem Wahrheitsfanatiker Gelegenheit, obendrein die Heucheleien des Westens zu katalogisieren. Diesem Lebensabschnitt widmete Solschenizyn die soeben auf deutsch herausgekommene Autobiographie "Zwischen zwei Mühlsteinen", die auf vierhundert Seiten ausmalt, wie die langen KGB-Fangarme, aber auch westliche Medien, Rechtsverdreher und Geldschinder ihm überall nachstellten.
Als gelegentlicher Kulturtourist erklärt der Russe dem unerschöpflichen, tiefverwurzelten Europa, wie er es nennt, seine Liebe. Doch vor allem beklagt er, wie erschlafft und alarmierend kurzsichtig die Europäer seien, eine Folgekrankheit des europäischen Wohlstandes. Heimisch fühlt sich der Prophet nur in kernbeißigen Randprovinzen. Etwa in Norwegen, wo Minister zu Fuß gehen und die Menschen sich einen aufrichtigen Geist bewahrt hätten. Oder im urigen Schweizer Kanton Appenzell, dessen jahrhundertealte Basisdemokratie Solschenizyn oft als Muster für ein sich selbst organisierendes Gemeinwesen angepriesen hat. Demokratie ohne Aufklärung, lautet die Schweizer Qualitätsformel für den Geschichtsdeuter, der überall die Abzweigung sucht, wo die Menschheitsentwicklung falsch abgebogen ist.
Die europäische Aufklärung setzte den Menschen zum Maß aller Dinge ein und öffnete dem Übermut des Individuums Tür und Tor. Daher der frivole Spieltrieb der Bildungsschicht, so Solschenizyns Jeremias-Lamento, welche die öffentlichen Debatten im Westen beherrsche und die Interessen von Gemeinschaft und Normalbevölkerung ignoriert. Daher das Desinteresse der europäischen Presse am echten Elend des russischen Volkes, wie es Solschenizyn und seine Mitstreiter noch in den siebziger Jahren in den "Stimmen aus dem Untergrund" schilderten, an zugrundegerichteten Dörfern und zerstörter Natur. Die westliche Journaille fragte nur, ob er links stehe oder rechts. Auf das Sündenkonto der Egoismusermächtigung schreibt der Autor ferner die Gewinnsucht der Verlage, etwa des britischen Bodley Head und seiner Entsandten Olga Carlisle, über deren Machenschaften auf Kosten des gefährdeten GULag-Chronisten das Buch detailliert abrechnet.
Solschenizyn erkennt, daß er seine Wahrheit nicht nur vor dem sowjetischen, sondern auch vor dem westlichen Establishment schützen muß. Seine Predigten gegen Kommerz und Juristerei wissen auch in Amerika nur bodenständige Provinzler zu würdigen. Sein Herz gehöre der Literatur, bekennt Solschenizyn, zum Historiker habe ihn seine Epoche gemacht.
Rußlands letzter Großschriftsteller, der ein langes Leben und kolossale Arbeitskraft dazu verwandte, Millionen unschuldig Zermalmten ein literarisches Denkmal zu setzen, zeichnet sich wie einen lanzenbewehrten Ritter Georg, der gegen den Sowjet-Drachen streitet. Unter seinem moralischen Röntgenblick zerfällt die Welt in Gerechte und Gerichtete, wird aber auch farblos und flach. Nicht von ungefähr gibt der Prophet nur seinen unsichtbaren Helfern wirklich gute Noten. An Solschenizyns Exil-Erinnerungen beeindruckt nicht zuletzt, daß so viele bewegte Jahre kein einziges einprägsames Porträt hinterlassen haben. Etwa der hilfreiche Heinrich Böll erscheint nur als Randfigur, selbst Gattin und Söhne bleiben Schemen. Einem verstorbenen Kindheitsfreund, der in KGB-Dienste trat, widmet der Autor eine "Wie konntest du nur"-Ansprache an dessen abwesende Seele. Der Schweizer Anwalt Heeb, der sich für die Solschenizyns ins Zeug legte, tritt zeitungskarikaturhaft auf als äußerlich imposant, aber in der Sache überfordert. Eine historische Figur wie Lenin schnurrt vollends zum Abziehbild des Satans zusammen. Was Leo Tolstoi vor allem im Alter versucht hat, den Künstler in sich abzutöten, um den Moralisten durchzusetzen, Solschenizyn scheint dieses ehrenvoll freudlose Ziel erlangt zu haben.
Der große Mahner, der Wert darauf legt, nur praktische Kleidung zu tragen und für genußvolles Essen keine Zeit zu verschwenden, mußte feststellen, daß die flatterhafte Leserschaft nach zwei Bänden Archipel GULag genug hatte und den dritten liegenließ. Das lag vielleicht nicht nur am Übermaß des Horrors, wie Solschenizyn vermutet, sondern auch daran, daß die Stimme dieses Autors, der Berge versetzt hat, sich anhörte wie tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
KERSTIN HOLM
Alexander Solschenizyn: "Zwischen zwei Mühlsteinen". Mein Leben im Exil. Aus dem Russischen übersetzt von Fedor B. Poljakov. Herbig Verlag, München 2005. 429 S., geb., 29,90 [Euro].
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