Produktdetails
- Knaur Taschenbücher
- Verlag: Droemer/Knaur
- Gewicht: 410g
- ISBN-13: 9783426772621
- Artikelnr.: 24112968
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Valentin Falin spielt sich als Zensor der Zeitgeschichtsschreibung auf
Valentin Falin: Zweite Front. Die Interessenkonflikte in der Anti-Hitler-Koalition. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Droemer Knaur Verlag, München 1995. 560 Seiten, 49,80 Mark.
Auf dem Höhepunkt ihrer Komplizenschaft zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hatten weder Hitler noch Stalin Schwierigkeiten, Verantwortliche für den Kriegsausbruch am 1. September 1939 zu benennen. Beide schoben den Westmächten, in diesem Falle Großbritannien und Frankreich, die Schuld daran zu. In einer Rede vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939 nannte der sowjetische Außenminister Molotow Deutschland einen Staat, der danach strebe, "den Krieg so früh wie möglich zu beenden und den Frieden wiederherzustellen, während Großbritannien und Frankreich, die noch gestern gegen die Aggression gewettert haben, heute für die Fortsetzung des Krieges und gegen einen Friedensschluß sind". An diese Infamie wird erinnert, wer sich die vom Molotowschen Geist durchwehten Auslassungen des ehemaligen sowjetischen Diplomaten und Deutschlandspezialisten über die "Interessenkonflikte" in der sogenannten Anti-Hitler-Koalition zu Gemüte führt.
Der sich - ganz moskowitischer Tradition entsprechend - als Zensor zeitgeschichtlicher Forschung aufspielende ehemalige Diplomat möchte ausgerechnet unter Berufung auf solche Koryphäen der historischen Wissenschaft wie Ernst Topitsch, Dirk Bavendamm und David L. Hoggan noch keinen Schlußstrich unter die Geschichte des Zweiten Weltkrieges gezogen wissen (was auch nirgendwo ernsthaft gefordert worden ist), weil zum Beispiel über die Modalitäten der weiteren Kriegführung im Juli 1943, als die Sowjetunion den Gang der Geschehnisse in Europa zu bestimmen begonnen habe, bislang "nur Krumen ans Tageslicht befördert" worden seien.
Die nach Falin deswegen notwendige Revision des bisherigen Geschichtsbildes hat seiner Meinung nach schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einzusetzen; sie soll entlang einer Entwicklungslinie vollzogen werden, die dem Kenner des einschlägigen Parteischulungsmaterials der KPdSU aus den dreißiger und vierziger Jahren sowie der daraus erwachsenen stalinistischen Geschichtsinterpretation recht bekannt vorkommt: Da eröffnet die friedliebende Sowjetunion mit dem Vertrag von Rapallo (angeblich "nicht gegen eine andere Nation gerichtet") einen hoffnungsvollen Weg, "um die Kunst der friedlichen Koexistenz zu erlernen"; da beginnt der Zweite Weltkrieg natürlich nicht mit dem deutschen Überfall auf Polen, sondern mit verschwörerischen Aktivitäten des "Weltimperialismus" in China, in Abessinien und in Spanien; und da wird wie selbstverständlich ein altes Vorurteil der sowjetischen Historiographie wiederbelebt und die - angeblich schon 1933 einsetzende - britische Politik des Appeasements angeklagt: Wenn der Frieden schon nicht zu retten sei, so wird ihr Grundgedanke denunziert, "dann mußte es ein Krieg gegen die UdSSR sein".
In den Ausführungen über die gewiß spannungsreiche Geschichte der "Anti-Hitler-Koalition" tritt das alte Feindbild des Sowjetdiplomaten besonders deutlich zutage. Schon Churchills berühmter Rundfunkrede vom Abend des 22. Juni 1941, in der er dem russischen Volk die Hand entgegenstreckte (aber den Sowjetstaat nicht bei seinem offiziellen Namen nannte), fehlte angeblich die innere Aufrichtigkeit. Hinter allen politischen Entscheidungen der Westmächte in den interalliierten Beziehungen wittert der Autor antisowjetische Motive und Tendenzen, ob nun bei der Ausarbeitung der Atlantik-Charta oder insbesondere bei der Errichtung einer zweiten Front. Auch hier ein von Sachkenntnis ungetrübtes Vorurteil: Diese habe man sich in Washington und London "vor allem als Druckmittel gegen Deutschland" und nicht als einen Weg vorgestellt, "die Anstrengungen im Rahmen des Koalitionskrieges mit der Roten Armee wirkungsvoll zu teilen".
Zwar gerät gelegentlich auch Stalin in die Schußlinie des Autors, weil er die Sowjetunion, den "Inbegriff des Antifaschismus", 1939 beim deutschen Angriff auf Polen "zur Geisel des faschistischen Expansionismus" gemacht und ihre "Utopie" verraten habe, aber im allgemeinen bleibt die Moskauer Rolle in der "Anti-Hitler-Koalition" seltsam unterbelichtet. Ein Problem Polen scheint es in den interalliierten Beziehungen damals kaum gegeben zu haben. Kein Wort fällt über die rigorose und die Koalition belastende Durchsetzung "volksdemokratischer" Strukturen in den südosteuropäischen Ländern noch vor Kriegsende. Und offenbar ist dem Verfasser im Eifer des Gefechts eine - erst kürzlich von dem Moskauer Historiker Michail Semirjaga bestätigte - Anweisung an die Offiziere und Soldaten der Roten Armee von Ende 1944, Amerikaner und Briten als Klassenfeinde und nicht als Verbündete zu betrachten, ganz aus dem Blickfeld geraten.
Falins Versuch, die Politik der Westmächte in der "Anti-Hitler-Koalition" mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten und viel Polemik in einen Prolog des Kalten Krieges umzudeuten, schlägt die Schlachten von gestern nochmals und pflegt vor allem politische Vorurteile. Wer zudem allen Ernstes behauptet, der finnisch-sowjetische Winterkrieg von 1939/40 sei dadurch ausgelöst worden, daß sich die finnische Regierung geweigert habe, "sich wenigstens auf eine Erörterung zunächst der Bitte, danach des Vorschlages und schließlich der Forderung" Moskaus einzulassen, ihr "drei oder vier kleinere Inseln in unmittelbarer Nähe Leningrads durch Pacht, Kauf oder Tausch gegen andere größere und rohstoffreiche Territorien zu überlassen", der wird in Kauf nehmen müssen, daß der Weg zur Entsorgung solcher hanebüchenen Ansichten in der Regel über das Billigantiquariat führt. Indessen hat der Band auch sein Gutes: Er dokumentiert auf überzeugende und unnachahmliche Weise, wie tief die Nomenklaturkader der früheren Sowjetunion noch immer im "alten Denken" verwurzelt sind.
ALEXANDER FISCHER
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