1945 in den Trümmern der Reichshauptstadt kauert. Sie heißt Hedwig Lohmann, hämmert Sätze in eine Schreibmaschine, und sie wagt sich kaum vor die Tür: "Sie sah sie überall: apathische Lumpenpuppen, in allen Kellerlöchern Freiwild, ganz Berlin ein Gratisbordell." Wenn sie nach draußen schleicht, dann nur, um auf den Anschlagbrettern nach dem Namen ihres Kindes zu suchen.
Dass Lohmann ein literaturgeschichtliches Vorbild hat, wird uns erst durch die Erwähnung einer Erzählung namens "Proserpina" bewusst, die Hedwig (angelehnt an das antike Drama des Kindes, das in die Unterwelt geriet, ihr entkam und in die Unterwelt doch immer zurückkehren muss) kurz vor der "Machtergreifung" verfasst haben soll. Die Rede ist, etwas verfremdet, von der heute fast vergessenen katholischen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, die in der Weimarer Republik ein uneheliches Kind mit einem Juden bekam: die spätere "schwedisch-israelische" Journalistin Cordelia Edvardson nämlich, die im Krieg nach Theresienstadt und Auschwitz verfrachtet wurde, den Holocaust überlebte und 1984 die wirkmächtige Autobiographie "Gebranntes Kind sucht das Feuer" vorlegte.
Hedwig Lohmann, die an Langgässer angelehnte Romanfigur, weiß im Ruinensommer des Jahres 1945 allerdings noch nichts von den "weißen Bussen" des schwedischen Roten Kreuzes, mit denen Cordelia aus den Lagern nach Schweden gelangte. Sie weiß nur, dass sie Hitler gewählt und die Verschleppung ihrer Tochter, die durch die Rassengesetze als "Dreivierteljüdin" galt, nicht verhindert hat.
Darin liegt wohl ihre Schuld, wenn nicht sogar noch weiter zurück: Hedwig gab einst das Neugeborene ins Heim, um sich der literarischen Produktion widmen zu können. Andererseits hat sie ja vieles versucht. Sie verweigerte damals die Abtreibung, die der Erzeuger vorgeschlagen hatte. Sie holte das Kind aus dem Heim. Ja, sie liebte es und glaubte, einen Ausweg gefunden zu haben - bis die Gestapo dann doch vor Tür stand.
Diese schlimme Geschichte wird durch eine zweite aufgebrochen, die 1983 auf der Couch einer Jugendpsychologin in Uppsala spielt - und durch eine dritte, die ins Jahr 2004 und in ein Pfarrhaus auf den schwedischen Schären führt. Auch hier befinden sich Frauen an einem Nullpunkt des Lebens, so diffizil es auch scheint, ihren mit dem Nullpunkt einer Elisabeth Langgässer oder gar Cordelia Edvardson zu vergleichen.
In Uppsala ist ein Mädchen, das in einer Familie von Egomanen aufwuchs, nach einem "Puppenmord" in Therapie. Sie staunt über das Bild von Persephone und Hades, das die Psychologin an die Wand gehängt hat, bastelt am "großen Therapiespiel" und fragt als freche Sinnforscherin: "Wie kommen die Menschen eigentlich dazu, Kinder zu zeugen, wenn sie nicht vorhaben, sich um sie zu kümmern?" Auf der Schäreninsel Blidholmen wiederum lebt eine Pfarrersfrau, die ihrem alternden Mann verschämt nachstellt. Der Pfarrer ist krank und schwärmt für eine junge Schriftstellerin. Seine Gattin hat viel für ihn aufgegeben; sie ist von ihm genervt, hängt nach vierzig Ehejahren und drei Kindern aber am gemeinsamen Weg.
Wie passen all diese Geschichten zusammen? Beim Springen von einem Erzählstrang zum andren gefällt sich Lundbergs Roman, der auf einen Besuch im Kloster Anastasiendorf hinausläuft, jenem "Dorf der Auferstehung", dem die Menschen in Langgässers letztem Werk "Märkische Argonautenfahrt" entgegenwanken, oft zu sehr in seinen Anspielungen und Querverweisen. Trotzdem sind die meisten Szenen so gut portioniert und eindrücklich, dass man den Frauen- und-Mütter-Roman "Zur Stunde Null" in einer leisen, von Selbst- und Sinnzweifeln geprägten Stunde nicht aus der Hand legen mag.
"Was kann ein Mensch eigentlich tun?" heißt es einmal. Die Antwort gibt Isa, jener schräge Teenager aus Uppsala, der bei der Krisenbewältigung auch auf die Autobiographie der an Proserpina erinnernden Journalistin und Schriftstellerin Edvardson zurückgreifen kann. "Ein Mensch kann so viel. Ein Mensch kann neue Menschen erschaffen, die Welt zusammenfügen und in Therapie gehen, kann andere verraten, forschen, vergeben. Das denke ich. Dann steig ich aufs Fahrrad."
MATTHIAS HANNEMANN
Lotta Lundberg: "Zur
Stunde Null". Roman.
Aus dem Schwedischen
von Nina Hoyer. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 384 S., geb., 20,- [Euro].
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