änderte sich in den westlichen Industriestaaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts alles: Arbeiten, Wohnen, Verkehr, Kommunikation. Eine "ambivalente Verwissenschaftlichung der Zukunft, eine Ära der Planer und Visionäre" begann. Politik und Sozialpolitik setzten bei der Zielformulierung und Risikoabschätzung von Entscheidungen zunehmend auf wissenschaftliches Wissen und durchgerechnete Vorhersagen. Es versteht sich, dass die beiden Weltkriege in den beteiligten Staaten zu einer völlig neuen Herausforderung für die planerische Rationalität wurden, und zwar auf den Feldern des Sozialen und Ökonomischen ebenso wie bei Forschung und Technik.
In ihrer weitausholenden, tiefbohrenden und klar dargelegten Analyse "vergangener Zukunftsvorstellungen" konzentriert sich die Autorin auf die Hochzeit der wissenschaftlichen Zukunftsforschung zwischen den vierziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Sehr kenntnisreich und auf einer denkbar breiten Literatur- und Quellengrundlage beschreibt sie zunächst die Geburt der Futurologie in den amerikanischen Think Tanks als "Cold War Science", um sich dann den herausragenden Schulen und Vertretern der neuen Disziplin zuzuwenden. Sie unterscheidet dabei den von Bertrand de Jouvenel und Carl Friedrich von Weizsäcker geprägten "normativ-ontologischen" Ansatz, den "empirisch-positivistischen" Ansatz (Daniel Bell, Hermann Kahn, Karl Steinbuch) und den "kritisch-emanzipatorischen" Ansatz mit den Vordenkern Ossip K. Flechtheim und Robert Jungk.
Ein zweiter Teil schildert die transnationale Vernetzung dieser aufmerksamkeitsträchtigen, zuweilen schillernden neuen Zunft. Der dritte große Abschnitt nimmt die Entfaltung des "Zukunftswissens" in der Bundesrepublik unter die Lupe und zeigt dessen praktischen politischen Gebrauch zwischen Steuerungseuphorie und Wachstumskritik.
Planung als solche war nichts Neues. Doch in dem Vierteljahrhundert nach dem Krieg erreichte die umfassende politische Planung unter Einbeziehung der Zukunftsforschung in den westlichen Industriestaaten auf der Basis der "Wirtschaftswunder" sowie eines ausgeprägten Modernisierungswillens und Wissenschaftsvertrauens eine bis dahin unerreichte Bedeutung. Sie versinnbildlichte ein Höchstmaß an Rationalität und Modernität. In der Bundesrepublik konnte eine gewisse Zurückhaltung nach den Erfahrungen der NS-Kommandowirtschaft und angesichts der "delegitimierenden Wirkung" des Staatsplansozialismus in der DDR erst Anfang der sechziger Jahre überwunden werden. Namentlich die CSU mit Franz Josef Strauß an der Spitze zeigte sich hier aufgeschlossen. Für einige Sozialdemokraten (weniger in der Parteispitze als in hohen Ministerialfunktionen) war wissenschaftlich angeleitete Planung geradezu die Voraussetzung für "Freiheitssicherung und -mehrung". Am unmittelbarsten wurde die Zukunftsforschung für die Bundesregierung auf dem Feld der Forschungsplanung wirksam. Insgesamt ist sie nach dem Befund der Autorin in der bundesdeutschen Politikberatung jedoch "wenig erfolgreich" gewesen.
Zukunftssicherheit und Machbarkeitsdenken gerieten Anfang der siebziger Jahre bekanntlich in die Krise. Nicht die kritische Einsicht des Club of Rome in "Die Grenzen des Wachstums", die Auswirkungen der Ölkrise und die überraschenden Konjunktureinbrüche nach goldenen Jahren dämpften die Zukunftsgewissheit, die wachsende Erkenntnis, dass den "Zukünften" unerhört komplexe interdependente Prozesse zugrundelagen, beeinträchtigte den einstigen Optimismus der Zukunftsforschung, ebenso "Die Gewissheit schwand, überhaupt belastbare Aussagen über die Zukünfte treffen zu können". Viele Prognosen hatten sich überdies als falsch herausgestellt. Sie verloren an Glanz.
Nun setzte eine Pluralisierung der Methoden und eine Neuorientierung am Leitbild der "Lebensqualität" ein, mit der sich große Teile der Zukunftsforschung politisierten und den Neuen Sozialen Bewegungen annäherten. Es erfolgte aber auch eine innere Erosion. Die Zukunftsforschung entfernte sich nach und nach von ihrem Kern - dem Nachdenken über die Zukunft - und begab sich zunehmend auf das Feld der gegenwartsnahen Sozialforschung. Zugleich trug sie durch die "Hinterfragung der Industriemoderne und der Forderung nach einem neuen Entwicklungsbegriff" selbst dazu bei, "Modernisierungs- und Planungskonzepte zu unterminieren". Die Autorin meint sogar, in den achtziger Jahren habe die Zukunft als wissenschaftliche und gesellschaftliche Kategorie infolge der wachsenden Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus viel von ihrer einstigen Bedeutung "zugunsten der Vergangenheit" eingebüßt.
Die Vorstellung von einer zu erkundenden Zukunft sei natürlich geblieben: "Doch zwei entscheidende Elemente waren verschwunden: Zum einen war dies das Emanzipatorische, das im sozialen Wandel und in der Fundamentalpolitisierung der 1960er und 1970er Jahre gründete. Zum anderen erodierte der Anspruch, den Wandel und damit die Zukünfte voraussagen, steuern und rationalisieren zu können." Diese Steuerungseuphorie sei danach zerfallen, nicht zuletzt, weil sie von einer "Bewitchment of Technology" infiziert gewesen sei.
KLAUS-DIETMAR HENKE
Elke Seefried: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980. Verlag De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2015. 575 S., 49,95 [Euro].
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