philosophischen und literarischen Traditionen des "Zimzum".
Diese Epoche war eine fruchtbare und tolerante, in der sich auch christliche Philosophie und Theologie eine mystische Welt zu eigen gemacht haben, die im sechzehnten Jahrhundert in Galiläa in esoterischen jüdischen Gruppen und vom strengen Geheimnis geprägten kabbalistischen Schulen entstanden war. Hinter dem Begriff "Zimzum" verbirgt sich eine komplexe Schöpfungstheorie. Ihr Urheber ist der Kabbalist Isaak Luria (1534 bis 1572). Laut Luria erschuf die "Selbstverschränkung" Gottes einen leeren Raum, in den sich die Gottheit emanierte. Dabei beschreibt er den Prozess des "Zimzum" als Einatmen Gottes, gleich einem "Mann, der seinen Atem sammelt und zurückzieht".
Eine solche Auffassung des göttlichen Schöpfungsaktes wird in der lurianischen Lehre zum kosmologischen Grundprinzip erhoben und demzufolge - darin besteht die Originalität Lurias - die erste Stufe der Schöpfung nicht als Offenbarung Gottes, sondern als sein Rückzug präsentiert. Der Grundgedanke der Lehre des "Zimzum" ist es, dass aufgrund der Unendlichkeit Gottes kein Raum ohne Gott existieren kann, da diese "Einschränkung" letztendlich die Natur Gottes begrenzen würde.
Der erste Schöpfungsvorgang manifestiert sich somit durch einen Rückzug Gottes in sich selbst. Diese Handlung ermöglicht es Gott zugleich, etwas außerhalb seiner selbst Existierendes zu erschaffen, indem er in das Vakuum des frei gewordenen Raumes sein Licht ausstrahlt. Die Deutung des lurianischen Schöpfungsmythos ist nicht einfach - zumal Luria nichts Schriftliches hinterlassen hat.
Trotz ihres obskuren Charakters verbreitete sich Lurias Lehre des "Zimzum" durch seine Schüler rasch. Deren Auslegungen weichen jedoch deutlich voneinander ab: Während die einen "Zimzum" als realen Vorgang interpretieren, in dem Gott sich tatsächlich zurückgezogen habe, verstanden die anderen "Zimzum" symbolisch oder als Metapher. Man hat es also mit der Deutung und Rezeption einer Idee zu tun, die nicht auf eine Urschrift oder feststehende Lehrtradition zurückzuführen ist. In seinem monumentalen Werk "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" von 1957 bemerkt Gershom Scholem über den "Zimzum": "Eine Geschichte dieser Idee von Luria bis auf unsere Tage wäre eine der faszinierendsten Darstellungen originell jüdischen, mystischen Denkens."
Schulte hat sich nun dieser Aufgabe unterzogen und bietet dem Leser dabei einen beeindruckenden Überblick darüber, wie tief die mystische Lehre der Kabbalisten in die europäische Gedankenwelt eingedrungen ist. Seine Analyse verdeutlicht zudem, dass sich der "Zimzum" zu einer der populärsten Ideen der Kabbalisten in den Zentren jüdischen Lebens der frühen Neuzeit entwickelte - in Italien, in Amsterdam wie auch in Osteuropa.
Durch die christliche Lesart des "Zimzum", wie sie sich beispielsweise in der Kabbala Denudata ("Enthüllte Kabbala", 1677) des Barons Christian Knorr von Rosenroth nachweisen lässt, fand die Theorie Eingang in die christliche Philo- und Pansophie und bildete einen festen Topos in der gesamten Gelehrtenwelt. Durch Vertreter wie Henry Moore, Anne Conway, Joseph Raphson und Isaac Newton verbreitete sich das Konzept des "Zimzum" in Cambridge. Durch die Schriften Johann Georg Wachters, Johann Franz Buddes, Johann Jakob Bruckners und Friedrich Christoph Oetingers kehrte es nach Deutschland zurück.
Selbst der Antisemit Clemens Brentano ließ sich davon inspirieren. Sowohl im Judentum als auch im Christentum, bei den Sabbatianern und deren Gegnerschaft, bei den chassidischen Juden, den Anhängern der jüdischen Aufklärung (Haskala) und den Vertretern der Wissenschaft des Judentums, im deutschen Idealismus und in der Romantik - "Zimzum" fand in unterschiedlichsten Zusammenhängen Verwendung. Im zwanzigsten Jahrhundert findet sich die Idee der Selbstbegrenzung Gottes in der Philosophie von Franz Rosenzweig; als zentraler Forschungsgegenstand taucht er im Werk Gershom Scholems sowie in den Schriften von Hans Jonas und Harold Bloom auf.
Das philosophische und theologische Wissen des Lesers wird sicherlich auf die Probe gestellt, wenn es um die Raffinessen dieser Schöpfungstheorie in ihren vielfältigen Ausformungen geht. Die Anstrengung zahlt sich aber aus. Die Lektüre des Buches ist eine faszinierende Reise durch vier Jahrhunderte Philosophie und Theologie.
GIUSEPPE VELTRI.
Christoph Schulte: "Zimzum". Gott und Weltursprung".
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 501 S., geb., 35,- [Euro].
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