ein dreifacher Sprunggelenkbruch die Muße aufzwang. Fischer-Dieskau verändert nun die Perspektive, verzichtet weitgehend auf vordergründige "Gesichter und Vorkommnisse", glücklicherweise auch auf das peinliche Eigenlob aus erlauchten Mündern und Federn.
Einzig die Kindheit und Jugend bis zur Befreiung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft, zur Rückkehr ins zerbombte Berlin und zu den ersten öffentlichen Erfolgen mit Schuberts "Winterreise" und dem Operndebüt als Posa in Verdis "Don Carlo" (1948) werden noch einmal ausführlich ausgemalt, doch mit schwärzeren Konturen, tieferen Schatten, dunkleren Farben. Schon in der Einleitung klingen die Angst auf und das lebenslange Abmühen, sich über ihre immer neuen Erscheinungsformen "klarzuwerden, damit sie zum Movens, zum produktiven Auslöser, werden konnte". Das Angstsyndrom bleibt Leit- und Leidmotiv im vierzehnten Buch Fischer-Dieskaus. Die Schilderung läßt darauf schließen, daß der Keim zur Menschenscheu, zum Einsamsein im eigenen, weltfernen Universum der Künste, zur unaufhörlichen Angst "vor Enttarnung meiner eingebildeten Unfähigkeit" in dieser Kindheit gelegt wurde, bei Eltern im Großelternalter, die von nationalsozialistischer Indoktrination nicht unberührt waren.
Eindrücke aus der Außenwelt werden im seelischen Zwiespalt gebrochen - zwichen Wagner-Wonne und Ideologieverdacht, zwischen glückverheißender Phantasie und ernüchternder Wirklichkeit, Reiseunlust und Welthunger. Das recht öde Defilee von Künstlergrößen in der früheren Autobiographie weicht einer lebendigeren Einsicht in Städte, Länder, Persönlichkeiten, die Fischer-Dieskau im Lauf seiner Karriere beeindruckten und formten. Besonders geglückt in seiner Ambivalenz ist das Porträt Karl Richters. Wichtige Lebensstationen, darunter bedeutende Uraufführungen als Nachweise einer kreativen Wißbegierde der neuen Musik gegenüber innerhalb eines universalen Repertoires, bilden lediglich das Datengerüst des Buchs. Dringender ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Sinn von Erfolg und Ruhm, mit der Bedeutung der Musik im Leben, mit dem Geist der Zeit.
Zu den meisten Themen hat Fischer-Dieskau schon früher sich geäußert, etwa zu Technik und Ausdruck des Singens, zum Regietheater, zu Event-Kultur und Musikkritik in der "Welt des Gesangs". Aber der Ton ist jetzt resignierter, bitterer. Den Rezensenten baut er sich zur Feindfigur auf, aus einem "Gefühl des Angefeindetseins" heraus, aus einer "Art Verfolgungswahn des sich öffentlich Äußernden". Ein Publizist wird sogar namentlich angegriffen. An einer positiv eingeschätzten Gegenfigur, ebenfalls mit Namen genannt, erläutert er, was er von Musikkritik erwartet: "ein getreues Echolot". Doch viele Kritiker seien bloß "Musiker mit unbefriedigtem Ehrgeiz", und niemand kenne "wirklich die legitime Funktion von öffentlichen Besprechungen . . ., sieht man einmal von der Werbung ab". Kritiker seien "aus Gemeinem gemacht . . . und (nennen) die Bosheit ihre Amme".
Es ehrt Fischer-Dieskau, daß er sich selbst nicht schont. Bestürzend offen bekennt er sich zum Fremdsein in seiner Zeit, zu einem Traditionsbegriff, der von der rasanten Umwertung der Kulturen überrollt wird. Seine künstlerische Tätigkeit aber sieht er als "Frage des Überlebens", und aus sämtlichen Künsten, von denen er erstaunlich viele neben der mehrseitig begriffenen Musik beherrscht, baut er sich eine Bastion wider den Ungeist der Gegenwart. Aber gerade die "Werktotalität", wie sie etwa in Monika Wolfs Fischer-Dieskau-Diskographie mit 4840 Einträgen auf 539 Buchseiten sich ballt, findet der Künstler "grauenerregend", und er sieht sich zum Versuch veranlaßt, "die davon ausgehende Lähmung zu überwinden und den lebendig-erfüllten Augenblick über die eherne Dauer der Vergangenheit triumphieren zu lassen". Freude über den Erfolg ist nicht seine Sache. Lieber kapselt er sich ab von den Menschen, flieht sofort in neue Aufgaben oder in "eine eigentümliche, vielleicht lebensnotwendige Kälte", die ihn gelegentlich bestimmt, sich "die Welt vom Leibe zu halten".
In dieser assoziativen Lebensleidschau fühlt sich der Leser nicht selten als Voyeur. Der grämlich graue Grundton des Buchs ist ebensowenig ein Fest wie für den Autor der Zwang, "in einer Welt zu leben, die von Tag zu Tag fremder zu werden droht". Erholsam ist da die eindrucksvolle Schilderung eines durchlittenen Unwetters am Starnberger See, erlauscht mit den Ohren des geborenen Musikdramatikers, eingefärbt mit dem expressiven Pinsel des talentierten Malers. Daß sich ausgerechnet die Lebens- und Kunstgefährtin Julia Varady Sentimentales gefallen lassen muß, ist bei so viel Schreibbegabung um so weniger begreiflich: "Auf ihren Lippen brannte das süße Salz der Tränen" (über die Sopranistin als Cordelia bei der Uraufführung von Aribert Reimanns Oper "Lear" 1978 in München), und "Die Abendröte um Julias Nacken, sie glaube ich nun erst richtig zu genießen" - nun, nach eingestandenen Anfechtungen.
ELLEN KOHLHAAS
Dietrich Fischer-Dieskau: "Zeit eines Lebens". Auf Fährtensuche. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000. 256 S., geb., 39,80 DM.
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