unabhängig, ihre Figuren kennen einander nicht. Dergleichen abschnittweise ineinander zu verflechten und Roman zu nennen ist barer Etikettenschwindel. Aber dem Autor soll zugestanden werden, dass er sich etwas dabei gedacht hat. Fragt sich nur, was.
Düffels Geschäftsreisender ist auf dem gut sechshundert Kilometer langen Weg zum Geburtstag des Sohnes, den er samt der Mama seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen hat. In der Ehe kriselt es, und die Liebe des Sohnes, so fürchtet er, ist ihm abhanden gekommen. Beides überrascht kaum, denn die Sorgen dieses im Auto vor sich hin meditierenden und klagenden Vaters haben zweifellos ihren Ursprung in der langen, nicht weiter erläuterten Abwesenheit von der heimischen Wohnung. Einsamkeit scheint eine Lebensform dieses Vater zu sein, nur ist er leider unglücklich dabei.
Während der Fahrt "zermartert" er sich "das Hirn", weil er kein passendes Geschenk für den Knaben bei sich hat. Man möchte ihm am liebsten raten, das nächste Mal sein Handy einzuschalten und den Sprößling zu fragen. Aber der Mann will leiden, erfindet sich eine Anhalterin, bloß damit er vor ihr seinen Kummer ausbreiten kann: "Die Anhalterin, die ich mitgenommen haben könnte, wäre nicht von hier." So fährt er sich schließlich im Auto in melodramatischer Selbstüberhöhung zu Schrott, vermutlich nach dem Willen des Autors nicht nur im Konjunktiv.
Christinas Fall hingegen ist weniger spektakulär. Seelenschmerz wird bei ihr hervorgerufen durch Lena, die tote Schwester, die so viel besser und erfolgreicher war als sie. Noch über den Tod hinaus wühlt das in ihr, nicht zuletzt der Männer wegen, bei denen Lena starken Zuspruch fand. Zur Zeit teilt Christina Bett und Miete mit dem lustbetont schwätzenden, nach Sandelholzseife duftenden und sich stundenlang duschenden Mediziner Hendrik. Zu dessen weiteren Faibles gehört - man erkennt den Fingerzeig - das Monologisieren im Auto, allerdings erst "nach dem Abstellen des Motors". "Halbe Nächte" habe man auf diese Art zugebracht, beklagt sich Christina und verlässt ihn, selbst auf den Koffer mit dem Nötigsten verzichtend. Zeit zum Verschwinden.
Das Auto, dieser Fetisch der Nation, wird zum Bindeglied der beiden Geschichten, eine Blechkabine zum Weltinnenraum. Rilkes poetische Vision erhält auf diese Weise eine neue, banale Substanz: die Insassen von Düffels Vehikeln sind Ego-Schwätzer. Er "lasse die Sprache sprechen", meint der Geschäftsreisende und lobt seine "reiche Erfahrung im Sagen von Dingen, die ich nicht meine". Von Hendriks Suada aber weiß Christina nichts Besseres zu sagen, als dass er "schwadroniere".
Düffel gibt flüchtige Skizzen von erkennbaren Typen. "Vermeide jede Art von Abhängigkeit, gehe keine festen Bindungen ein", lautet eine ihrer Losungen. Denn allesamt gehören sie zu einer sich in Szene setzenden Generation der leeren Herzen, die sich zwar viel auf ihre Freiheit, Aufgeklärtheit und Ungebundenheit zugute hält, aber das Lieben verlernt hat und nur noch geliebt werden will. Oder ist "Generation" zu hoch gegriffen? Handelt es sich nicht lediglich um eine Gruppe junger oder jüngerer Intellektueller und Künstler, die sich in beträchtlicher Selbstüberschätzung für die Gesellschaft hält?
Düffel ist ein talentierter Erzähler. Situationen zeichnet er genau, geht feinfühlig Stimmungen nach und weiß hin und wieder das Zusammenspiel von Absichten und Antrieben im Handeln sichtbar zu machen. Aber diese Geschichten bleiben dennoch flach, weil er seine Gestalten nicht durchschaut, sondern teilnimmt an ihrer Selbstverklärung und mit ihnen die Banalität teilt, die sich unter ihrem Pathos verbirgt. Nirgends wird deutlich, warum sie so sind, wie sie sind. Ihr Horizont ist offenbar der des Autors.
Bezeichnendes Symptom dafür sind jene als Motti oder Aussagen von Figuren eingestreuten Sätze, die sich als Weisheiten gebärden, aber dem Nachdenken nicht standhalten. "Wenn Geschwister ihre Eltern verlieren, heißen sie Waisen. Wenn sie einander verlieren, gibt es dafür kein Wort." Was wäre damit gewonnen? Oder peinlich: "Die Zeit läuft in eine Richtung: ab." Den Punkt unfreiwilliger Parodie erreicht die Erkenntnis über Paare im Auto: "Einer von beiden schaut immer geradeaus. Man sieht sich beim Fahren nicht in die Augen, nicht wirklich." Die übrigen Verkehrsteilnehmer bitten darum.
John von Düffel: "Zeit des Verschwindens". Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2000. 206 S., geb., 34,- DM.
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