Hinzu kamen viele Soldatenmißhandlungen, die regelmäßig im Reichstag thematisiert wurden, ohne daß die "Schule der Nation" daraus irgendwelche Konsequenzen zog. Daß das Bild einer in Fundamentalkritik verharrenden SPD nur bedingt zutrifft, war zwar bekannt, ist aber nie mit solcher Klarheit herausgearbeitet worden wie in der materialreichen Studie von Bernhard Neff.
August Bebel hat keinen Hehl daraus gemacht, daß er bei aller Kritik an der kaiserlichen Innen- und Außenpolitik bereit war, den Zarismus zu bekämpfen, um die erreichten Fortschritte im Kampf um eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu schützen, Millionen Arbeiter marschierten schließlich 1914 ohne Protest in den Krieg. Anstatt zum Generalstreik aufzurufen, führten sie für das preußische Dreiklassenwahlrecht einen Krieg, wie der Anfang September 1914 gefallene Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank notierte. Dieses Verhalten war, so Neff, im Grunde ein Ergebnis der allmählichen parlamentarischen Integration der SPD "in res militaribus". Zwar war die Partei weiterhin bestrebt, an Stelle des alten ein neues Haus zu errichten. Da sich dieser "Neubau" hinzog, wollte sie zugleich das existierende, als morsch und baufällig qualifizierte Haus erträglicher, wohnlicher gestalten.
Für den Bereich der Militärpolitik bedeutete dies einen allmählichen Wandel der bisherigen, vergleichsweise pauschalen, in erster Linie moralisch und ideologisch motivierten Kritik am preußisch-deutschen Militarismus. Sie gehörte weiterhin zum Standardrepertoire sozialdemokratischer Redner im Reichstag. Junge, eher pragmatisch orientierte "Fachleute" wie Gustav Noske, die sich intensiv mit Armee und Flotte und deren Aufgaben beschäftigt hatten, machten jedoch auch überraschend detaillierte und im Ergebnis konstruktive Bemerkungen, die sich zunächst gegen die Offiziere richteten. Diese verstanden sich als Vertreter eines geschlossenen Kriegerstandes, paradierten am liebsten in alten Uniformen und betrachteten die Kavallerie immer noch als das wichtigste Instrument in einer Schlacht. Den Erfordernissen des modernen Maschinenkrieges - der "Militärtechniker" und keine im Kugelhagel der Maschinengewehre sinnlos sterbenden "Helden" klassischen Typs verlangte - wurden derartig sozialisierte und ausgebildete Offiziere immer weniger gerecht, wie die Erfahrungen des Burenkrieges, des Russisch-Japanischen Krieges und der Balkan-Kriege lehrten. Damit einher ging eine grundlegende Auseinandersetzung mit überholten Formen der Ausbildung, unzureichenden taktischen Auffassungen, veralteten Ausrüstungsgegenständen und inneren Strukturen sowie dem als völlig überholt angesehenen Privileg der Einjährig-Freiwilligen.
Diese Kritik war mehr als nur Parteikalkül. Sieht man von den Auswirkungen der Sozialisation der jüngeren Generation in der Armee einmal ganz ab, so war die Ablehnung des "feudalen Militarismus" zunehmend Ausdruck der von einer beträchtlichen Russophobie genährten Sorge vor einem Welt- und Volkskrieg. Im Interesse einer effizienteren Verteidigung wollten die Sozialdemokraten daher im Einklang mit den Linksliberalen Reformen durchsetzen, die ein "kriegsmäßiges" Heer und eine demokratische Heeresreform zum Ergebnis hatten. Die Forderung nach Schaffung einer Miliz trat dabei allmählich in den Hintergrund. Es entbehrt freilich nicht einer gewissen Ironie, daß sich die SPD - ohne es überhaupt mit der entsprechenden Klarheit zu erkennen und zu thematisieren - damit kaum noch von jenen Kräften der neuen politischen Rechten unterschied, die die Armee modernisieren wollten, um nach dem Prinzip "je eher, desto besser" losschlagen zu können.
Die Unfähigkeit der SPD, das Wesen des "neuen" Militarismus zu begreifen, ihre tradierte Angst vor Rußland zu überwinden sowie die immanenten Schwächen des langjährigen "Praktizismus" in Militärfragen zu erkennen, machten - so der Autor - das Desaster des August 1914 nahezu unvermeidbar: "Teils kläglich, teils willentlich" habe sich die Mehrheit der SPD-Fraktion daher von der Reichsleitung an der Nase herumführen lassen und den Kriegskrediten zugestimmt - eine Deutung, die in vielerlei Hinsicht plausibel erscheint.
MICHAEL EPKENHANS
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