sparsam.
Auf welchem Wege ein Stofftier wie Winkie zum Leben erwachen kann, wird uns nicht erklärt. Vermutlich, so legt Clifford Chase in seinem ersten Roman "Winkie" nahe, findet eine Art Kernschmelze statt: Wenn die sinnlos im leeren Kinderzimmer verpuffende Liebe eines übervollen Bärenherzens kein anderes Echo als äußerste Lieblosigkeit findet, wenn also jahrelang positive auf negative Energie trifft, dann knallt's halt irgendwann. Und wo's knallt, ist Leben.
Der Staatsanwalt hat andere Erklärungen für Winkies plötzliche Vitalität: Gentechnik, Chromosomenschäden als Folgeerscheinung von illegalem Drogenkonsum, Mißbrauch von plastischer und rekonstruktiver Chirurgie, Auswirkung von chemischen oder biologischen Kampfstoffen. Am wahrscheinlichsten scheint ihm jedoch, daß Winkie eine der zahllosen schrecklichen Kreaturen ist, die in Geheimfabriken zusammengeschraubt werden, um die freie Welt mit Angst und Terror zu überziehen. Denn Winkie ist nicht nur ein Teddybär, der lebt und spricht, sondern Winkie ist ein Plüschtier, das als Top-Terrorist gilt.
Mit "Winkie" hat der 1958 geborene Clifford Chase eine bitterböse Satire auf das Amerika der Bush-Ära geschrieben, eine Parabel auf Paranoia und Fremdenangst, hysterischen Patriotismus und die Lust, alles zu unterdrücken und auszumerzen, was nicht der Norm entspricht. Der Gerichtssaal, in dem Winkie der Schauprozeß gemacht wird, könnte in Salem stehen, und natürlich darf unter den "neuntausendsechshundertachtundsiebzig Anklagepunkten" auch der Vorwurf der Hexerei nicht fehlen. Winkie verkörpert das vermeintlich Böse aller Zeiten, er ist nicht nur ein Bombenleger und terroristischer Massenmörder, sondern auch ein Verderber der Jugend, der wie Oscar Wilde Knaben in Hotels verführt und wie Galilei leugnet, daß die Erde den Mittelpunkt des Universums bildet. Daß er sein Fell zum größten Teil schon vor Jahrzehnten eingebüßt hat, als er noch von Vierjährigen von morgens bis abends durchs ganze Haus geschleift wurde, gilt vor Gericht als sicheres Indiz für venerische Krankheiten. Nein, alles was Winkie entlasten könnte, verkehrt sich vor Gericht ins Gegenteil, in den untrüglichen Beweis seiner Schuld. Wer so vertrauensvoll und unschuldig aus seinen Glasaugen schaut wie ein Teddybär, der muß ein Massenmörder sein.
Es gibt Winkie tatsächlich. Er wurde in den frühen zwanziger Jahren von der Wholesale Toy Company hergestellt und als " Blinka-Kulleraugen-Bär" verkauft. Winkie gehörte zunächst Ruth Chase (1915 bis 2006), die ihren Bären Marie taufte und ihn später an ihre fünf Kinder weiterreichte. Ihr jüngster Sohn, Clifford, machte aus Marie Winkie (eine Geschlechtsumwandlung, die vor Gericht als mögliche Ursache seelischer Störungen des Angeklagten Erwähnung findet) und stellte ihn vier Jahrzehnte später in den Mittelpunkt eines Romans, der nicht nur satirische Züge trägt, sondern auch eine Art Liebeserklärung an alle Plüschtiere dieser Welt darstellt.
Über weite Strecken liest sich "Winkie" aber auch wie der vollkommen abgedrehte, poetische Wiedergutmachungsversuch eines erwachsenen Mannes, der seinen Teddybären vernachlässigt hat. Denn Chase erzählt nicht nur von der Terroristenjagd und der grotesken Gerichtsverhandlung. Der zweite Erzählstrang des Romans erzählt das Leben eines seelenvollen Bären, der die Freiheit entdeckt und eine bittersüße éducation sentimentale erfährt. Chase entwickelt dabei eine erzählerische Unbekümmertheit, die von Skrupellosigkeit nicht immer ganz leicht zu unterscheiden ist: Wenn er schildert, wie Winkie im Wald in jungfräulicher Bärengeburt ein Junges zur Welt bringt und aufzieht, türmt sich der Kitsch mehr als teddybärenhoch. Selbstironisch wird es, wenn Chase gesteht, daß der Tugendbär mit ihm ein Problemkind am Bärenhals hatte: Noch als Schulkind macht Clifford regelmäßig in die Hosen, und als er als einziger Entlastungszeuge vor Gericht steht, ist er dem kleinen Bären auch keine große Hilfe. Dieses Debüt ist absurd, komisch, schräg, böse, kitschig und poetisch. Das ist eine gewagte Mischung. Zusammengehalten wird sie von den Bärenkräften eines armen kleinen Stofftiers.
- Clifford Chase: "Winkie". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Marcus Ingendaay. Berlin Verlag, Berlin 2006. 254 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main