Naturzusammenhangs zu nehmen und in ihnen gleichzeitig - diese Natur sitzt ja im Kopf - die Ursachen unseres Denkens, Empfindens und Handelns zu sehen. Weil der freie Wille in diesem Bild ein Anstoß sein müsste, der auf wahrhaft wundersame Art den Kausalzusammenhang unterbricht, wird ihm der Prozess gemacht. Er wird zur Illusion erklärt, unumgehbar vielleicht für die soziale Stabilisierung, aber letztlich im Labor der Hirnforscher zu durchschauen als Trickspielerei des eigentlichen Akteurs hinter den Kulissen: des Gehirns.
Empirische Belege braucht es für diese metaphysische Konstruktion des Hirns als Subjekt zwar eigentlich nicht, doch die Verfechter bestehen mit Nachdruck darauf, dass nur die Befunde ihrer Wissenschaft sie zu so weitgehenden Konsequenzen drängen, die unser Selbstverständnis von Grund auf erschüttern müssten. An Plausibilität gewonnen hat diese Behauptung durch die in Feuilletonartikeln, Aufsätzen und Büchern geführte Debatte der letzten Jahre allerdings nicht. Mit der Erschütterung steht es ähnlich: Unsere "Alltagspsychologie" und die an sie anknüpfenden gesellschaftlichen Praktiken erweisen sich als resistent - zwar nicht gegen manche kleine, wohl aber gegen die eine große neurowissenschaftliche Entzauberung, wie sie "dem" freien Willen gilt.
Es ist deshalb eine naheliegende Frage, welche Einsätze in diesen Debatten um den freien Willen eigentlich auf dem Spiel stehen. Wie erhellend sie sich behandeln lässt, führt der Band einer Forschungsgruppe von Kognitionswissenschaftlern, Philosophen und Soziologinnen vor Augen. In bündiger Form werden darin Willenshandlungen unter verschiedenen Perspektiven behandelt, um das Phänomen des Willens besser in den Blick zu bringen: sein Verhältnis zum Bewusstsein, zu deterministischen Vorstellungen, zum Begriff des Selbst. Unausweichlich läuft das auch auf die Frage zu, in welchem Sinn es den Willen eigentlich und "wirklich" gibt.
Dass es ihn offensichtlich nicht so gibt, wie es einige Hirnforscher erwarten, liegt auf der Hand. Die Autoren führen noch einmal vor, wie schnell der freie Wille verschwinden kann, sucht man ihn im Gehirn. Eine empirische Widerlegung, wie sie manchmal aus Benjamin Libets einschlägigen Experimenten Hals über Kopf erschlossen wurde, wird aus solcher Fehlanzeige natürlich nicht. Was Libets Befunde und eine Reihe von anderen Experimenten in ihrem Gefolge in Frage stellen, ist vielmehr eine bestimmte Vorstellung davon, wie bewusste Vorstellungen Handlungen auslösen sollen. Getestet wird ein Modell, in dem schlichtweg jeder willentlichen Handlung - wie etwa den meist verwendeten einfachen Handbewegungen - ein bewusster Willensakt als unmittelbar auslösende Ursache vorhergeht.
Die Merkwürdigkeit dieser Vorstellung von willentlicher Handlungssteuerung ist früh angemerkt worden. Man muss aber nicht nur auf die hochgradige Künstlichkeit dieser Laborsituation verweisen, die den Willensimpuls als gleichsam mechanischen inneren Anstoßgeber modelliert. Mittlerweile liegen auch eine Reihe von experimentellen Befunden vor, die für eine viel indirektere kausale Rolle von bewussten Handlungsabsichten sprechen. Nicht punktuelle Handlungen werden durch diese initiiert, wie es das mechanische "Billardkugelmodell" suggeriert, sondern breiter aufgebaute Reaktions- und Handlungsdispositionen, in denen kognitive, sensorische und motorische Verarbeitungssysteme aufeinander abgestimmt werden. In diesem realistischen Bild haben auch unbewusst ablaufende Anbahnungen von willentlichen Bewegungen ihren Platz, ohne gleich zu dem Verdacht zu führen, damit käme das Gehirn als eigenständiger Akteur unseren bewussten Absichten zuvor.
Sowenig der Wille dem schiefen Labormodell entspricht, so wenig ist er freilich auch Angelegenheit einer täuschungsfreien introspektiven Wahrnehmung innerer Verursachungen. Wir können uns sehr wohl darin täuschen, dass bestimmte Handlungsergebnisse das Ergebnis unserer bewusst gefassten Entschlüsse sind. Auch dafür lassen sich Experimente anführen. Wir können Illusionen erliegen, aber doch nur deshalb, weil uns das nicht immer und überall unterläuft.
Diese Einsicht ließe sich wohl auch aus einer Betrachtung der "Grammatik" unserer Sprach- und Lebensformen gewinnen. Aber die Autoren sind nicht an einer schroffen Entgegensetzung von Lebenswelt und Labor interessiert. Die neurowissenschaftlichen Blickverengungen und Kategorienfehler werden konstatiert, um die Übergänge zum Willen als soziales und kulturelles Phänomen zu markieren. Dann geht es nicht mehr um die Frage, ob und wo man den Willen findet, sondern darum, wie er von unseren Praktiken und Diskursen geformt wird. Was aber auch einschließt, dass da etwas ist, woran sich diese Formung zu bemessen hat - eine vernünftige Maxime, über deren richtige Auslegung man freilich endlos streiten kann.
Schiedssprüche in solchen Debatten möchte der Band gar nicht fällen. Die Wissenssoziologen interessieren sich weit eher dafür, warum die neurowissenschaftliche Desillusionierung offensichtlich ohne Effekt blieb. Dafür greifen sie auf das florierende Genre der Ratgeberliteratur zur besseren - glücklicheren, erfolgreicheren, erfüllteren - Lebensführung zurück, in der Formen des Selbstmanagements eingeübt werden. Diese Techniken effizienter Selbststeuerung, wie sie gesellschaftlichen Akteuren heute abverlangt wird, setzen naturgemäß auf den Willen. Aber dieser Wille ist nicht an Gegenstände gebunden, sondern eine Sache der Modulierung des Wollens selbst - wofür durchaus auch auf entsprechende Angebote aus neurowissenschaftlicher Ecke zurückgegriffen werden kann. Solches pragmatische Willensmanagement scheint tatsächlich nicht zu desillusionieren.
Ob diese Einsicht zeitdiagnostisch besonders aufschlussreich ist, steht auf einem anderen Blatt. Auf jeden Fall aber zeigt sie, dass um Willensfragen nolens volens nicht herumzukommen ist, ob mit oder ohne neurowissenschaftliche Interventionen.
HELMUT MAYER
"Willenshandlungen". Zur Natur und Kultur der Selbststeuerung. Herausgegeben von Tillmann Vierkant. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 214 S., br., 10,- [Euro].
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