weil seine 1939 aus Deutschland geflohene Mutter ihm jetzt einschärft, seine jüdische Herkunft keinem Menschen mehr zu offenbaren. Belgische Familien verstecken das Kind bis Kriegsende. Die Mutter, die sich in Selbstvorwürfen selbst zerstört, wartet bis zu ihrem Tod in den siebziger Jahren auf Roselchens Heimkehr.
Der Vater ist Realist. Schon 1940 verschleppt, übersteht er die Lager Gurs, Buchenwald, Auschwitz und die Todesmärsche zurück nach Dachau. Bald nach der Befreiung holt er seine Frau und seinen kleinen Sohn nach Hause ins westfälische Warendorf, wo die Vorfahren seit Jahrhunderten meist als Viehhändler lebten. Außer ihm ist noch kein Jude hierher zurückgekehrt. Dennoch treibt er in seiner Heimat den Neuaufbau der jüdischen Gemeinde unbeirrt voran; ein Lederwarenhändler hat die Torarolle sieben Jahre in seinem Keller versteckt.
Jahrzehnte später benennt die Stadt eine Straße nach Hugo Spiegel. Seinem Sohn Paul, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, verleiht sie die Ehrenbürgerwürde. Der nimmt sich die Freiheit, die Warendorfer Bürgerschaft an den 9. November 1938 zu erinnern, an dem man seinen Vater halb totgeprügelt hat; im übrigen sei es allmählich an der Zeit, Herman Göring von der städtischen Ehrenliste zu streichen.
Ohne literarischen Ehrgeiz, verfolgt Paul Spiegel am Beispiel seiner Familie den Weg, den die Juden in Deutschland in den letzten hundert Jahren gegangen sind. Nebenher läuft ein leicht faßlicher Grundkurs über die wichtigsten jüdischen Riten und Bräuche. Breiter und volkstümlicher als mit diesem Lebensbericht, in dem auch allerlei Stars und Sternchen aus dem Unterhaltungsgeschäft auftreten (Spiegel betreibt eine Künstleragentur), läßt sich der Zugang zu Lebenswelt und Schicksal der Juden in Deutschland kaum öffnen.
1945 war das etwa eine halbe Million Zugehörige zählende gewachsene Judentum in Deutschland ausgelöscht. Das Vernichtungsgeschehen traf auch die Spiegels als ein zuvor "unvorstellbarer" Vertrauensbruch des eigenen Vaterlandes. Die heimtückische Entführung und Tötung Roselchens ist ein Sinnbild dafür. Die Heimkehr zeigt den Selbstbehauptungswillen gegenüber Deutschland ebenso wie den Vertrauensvorschuß, den einige Überlebende ihrem Land noch immer geben wollten. Dabei mußten sie sich nicht nur fortbestehender antisemitischer Feindseligkeiten, sondern auch scharfer Kritik des Jüdischen Weltkongresses und des 1948 gegründeten Staates Israel erwehren. Dorthin waren die Davongekommenen, die "Displaced persons" und die zu Hause bedrohten polnischen Juden meist weitergezogen.
Als der Zentralrat 1950 gegründet wurde, lebten ungefähr 25 000 meist mittellose und erschöpfte Juden in der Bundesrepublik. Jahrzehnte lag die Sterbeziffer in den jüdischen Gemeinden siebenmal höher als die Geburtenrate. Doch in den sechziger Jahren begann die zweite Generation die Koffer auszupacken, auf denen sie bis dahin saß - zumal das "demokratische Selbstbewußtsein" der Gesellschaft stieg und das "uneinsichtige und bleierne" Beharren der Ewiggestrigen abnahm, wie Spiegel schreibt.
Mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und dem Zustrom der Juden aus den GUS-Staaten begann die neuerliche Revolutionierung des Judentums in Deutschland. Mit ihren etwa 100 000 Mitgliedern wächst die jüdische Gemeinde weltweit am schnellsten. Klammer des Zusammenhaltes ist noch immer der Zentralrat. Keineswegs unkritisch läßt der Autor dessen führende Gestalten von Hendrik George van Dam und Heinz Galinski bis zu Salomon Korn und Michel Friedman Revue passieren; eindringlich seine warmherzige Hommage an Ignatz Bubis, für den die "furchtbare Rede" Martin Walsers zur "entscheidenden Wende im Leben" geworden sei.
Hitler konnte zwar die radikale Veränderung, aber nicht die völlige Beendigung jüdischer Existenz in Deutschland erzwingen. Die Genugtuung darüber, daß es nicht gelang, das Land "judenrein zu morden", durchzieht das ganze Buch: "Das neue deutsche Judentum wird offener, kosmopolitischer, aber auch aufmerksamer und vorsichtiger sein." Spiegel pocht auf die Verantwortung Deutschlands gegenüber den Juden, die genug durchgemacht hätten, um sich rechtzeitig und energisch zur Wehr zu setzen, wenn ihnen altvertraute Ressentiments entgegenschlügen - als "gute Seismographen" auch dann, wenn sich Attacken auf die Menschenwürde gegen Nichtjuden richteten.
Spiegels Traum sind die Erneuerung des "äußerst kritischen deutsch-jüdischen Verhältnisses" und eine Versöhnung mit der nichtjüdischen Gesellschaft, Anstand und Pragmatismus im Umgang sind sein Plädoyer. Für einen Alltag, der das Judentum nicht auf "Klezmer-Musik und Holocaust" reduziert, seien aufdringlicher Philosemitismus und "arrogantes Wohlwollen" ebenso entbehrlich wie von ihm deutlich benannte sogenannte Funktionsjuden, die sagen, was Nichtjuden gerne ausdrücken oder hören würden.
Trotz der Angriffe auf Minderheiten, Gedenkstätten und jüdische Einrichtungen ist Paul Spiegel zuversichtlich, "daß die Mehrheit uns und unsere jüdischen Gemeinden in diesem Lande haben wollen". Als illusionsloser Optimist hat er Vertrauen zum vereinten Deutschland. Auf der letzten Seite seines Erinnerungsbuches ist das Fragezeichen im Buchtitel denn auch getilgt.
KLAUS-DIETMAR HENKE
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