übersehen, wie sorgfältig es gearbeitet ist, wie gut es informiert und wie gut es die kindlichen Leser bei einem so komplexen und detailreichen Thema zu halten vermag.
Das sehr verbreitete kindliche Interesse an den eigenen Ausscheidungen - und im Weiteren am Thema allgemein - ist schon längst in Bilderbüchern wie dem Klassiker "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat" von Werner Holzwarth und Wolf Erlbruch oder in Pernilla Stalfelts Kindersachbuch "So ein Kack" aufgegriffen worden. Ohne Scheu wird hier etwas Natürliches, etwas Unvermeidbares verhandelt, wovor viele Erwachsene Abscheu empfinden. Und das die Neugier von Kindern vielleicht auch deshalb weckt, weil sie dabei das Unbehagen Erwachsener durchaus spüren.
Nun hat der Stoffwechsel den thematischen Vorteil, dass er jedem Menschen, sogar jedem Lebewesen zu eigen ist. Krankheiten betreffen Einzelne, sodass Anteilnahme wie auch Abstandnahme anderer ebenfalls Einzelne betreffen und zwischenmenschliches Fingerspitzengefühl erfordern. In "Wie krank ist das denn?!" umschifft Birte Müller dieses Problem, indem sie auf beides verzichtet - und ohne sonderliche Empathie, dafür um so genauer auf vierzehn ausgewählte Leiden schaut.
Dass Seeleute in alten Zeiten durch Vitamin-C-Mangel nach einiger Zeit an Bord an Skorbut erkrankten, ist bekannt. Welche Symptome über den Zahnausfall hinaus sie schließlich vor Schmerz laut schreien und weinen ließen, beschreibt die Autorin ebenso eingehend wie den Weg, mit dem James Cook während der ganzen drei Jahre seiner zweiten Südseereise, zu der er 1772 aufgebrochen war, auch nur einen einzigen Skorbut-Toten in seiner Mannschaft vermeiden konnte.
Sauerkraut und Peitsche: Diese Anspielung hätte womöglich erwachsene Leser amüsiert. Die Autorin hingegen knüpft an ein kindliches Leidensthema an: das elterliche Drängen, ausreichend Obst und Gemüse zu essen. "Manchmal haben Mütter eben doch recht", unterschreibt sie das ganze Kapitel. Mit dem Hinweis, heute seien "fast nur noch unterernährte Menschen in sehr armen Regionen betroffen", beschließt sie es. "Und natürlich bald du, wenn du nicht auf deine Mudda hörst!"
Damit nervt Birte Müller sicherlich nicht nur Kinder, sondern Leser jeder Altersgruppe, aber sie führt sie auch wie nebenbei durch knapp hundertachtzig Jahre Medizingeschichte, von der Versuchsreihe eines britischen Schiffsarztes mit Zitrusfrüchten zur Behandlung von Skorbut bis zur Entdeckung der Ascorbinsäure um das Jahr 1930.
Wer - von Fachleuten einmal abgesehen - hätte gewusst, dass manche Hautpilze ein eigenes Antibiotikum entwickeln, um die schützenden Mikroorganismen auf der menschlichen Haut abzutöten und in die obere Hautschicht eindringen zu können? Wer hätte geahnt, dass Bandwurm-Medikamente den Parasiten betäuben, damit auch dessen Kopf sich aus der Darmwand seines Wirts löst, ausgeschieden werden kann und so verhindert wird, dass das Tier einfach nachwächst? Wem wäre gegenwärtig, dass die Angst vor einer Tuberkulose-Pandemie in unserer Zeit gar nicht unbegründet ist, weil sich der Erreger schnell verändert?
Im Kapitel "Psychische Störungen" schlägt Birte Müller leisere Töne an. Hypochondrie und Depression sind die beiden Beispiele, auf die sie näher eingeht, und bevor sie auch hier mit einem Witz das Thema wechselt, betont die Autorin, dass sie hypochondrische Störungen nicht zum Lachen findet. Ein guter Arzt, auch dieser Hinweis ist ihr wichtig, werde "niemals über einen Patienten lachen, der sich Krankheiten einbildet". Über die gegenwärtige Corona-Pandemie zu schreiben ist der Autorin erkennbar am schwersten gefallen - allein in der Zeit: Mal schreibt sie von ihr in der Vergangenheit, mal gibt sie sich gespannt, wie sie die Welt verändern wird. Dass wir unser Verhalten ändern müssen, macht sie hingegen klar: im Umgang mit Krankheiten wie dieser wie auch in unserer Pflicht, möglichst gut informiert zu bleiben.
Birte Müller erspart Erwachsenen in ihrem Buch keine Geschmacklosigkeit - und Kindern umgekehrt kein Vorwort, keine Fußnote und kein Glossar. So sicher sie sein können, dass die Sachbücher, denen sie in ihrem weiteren Leben begegnen, in der Lautstärke und Lebhaftigkeit die Marke von "Wie krank ist das denn?!" wohl nicht mehr erreichen werden: Während sich die jungen Leser auf mehr als hundert Seiten mit einem nicht allzu naheliegenden Thema beschäftigt haben, sind sie auch mit den Merkmalen heutiger Sachbücher vertraut worden. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Birte Müller,
Yannick de la Pêche:
"Wie krank ist das denn?!" Gruselige
Krankheiten von
früher bis heute.
Klett Kinderbuch,
Leipzig 2021. 136 S.,
geb., 15,- Euro. Ab 10 J.
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