sich an den romantischen Wunsch klammert, ein wahrhaftiges, ehrliches und auf diese Weise erfüllendes Leben zu führen, fasst er notgedrungen lauter absurde, sich an den unerträglichen Manieren und der Egomanie seiner Mitmenschen ausrichtende Vorsätze. So nimmt er sich vor, täglich in Einkaufszentren zu gehen, um seinen Menschenhass zu stärken.
Antonius ist knapp über fünfzig und hat schon etliche Lebenskatastrophen hinter sich. Er lebt in Berlin, kurz nach dem Mauerfall, doch die wirre Euphorie der Stadt mit ihrer Goldgräberstimmung dringt nur selten zu ihm durch, und wenn, dann kann Antonius nur schwer zwischen der äußeren und seiner inneren Verwirrung unterscheiden. Jeden Tag zermartert er sich den Kopf, was er anfangen soll mit seinen Tagen, und die Autorin führt ihm und den Lesern einige besonders rigorose Varianten der Sinnerzeugung wie Folterwerkzeuge vor. Schon der ironische Titel spielt auf Nikolai Ostrowskis realsozialistischen Klassiker "Wie der Stahl gehärtet wurde" (1936) an, der ein gnadenlos zugerichtetes Leben feiert, das sich für einen willkürlich behaupteten Zweck - "Befreiung der Menschheit" genannt - aufopfert. Da ist Antonius viel bescheidener: Er wäre schon glücklich, wenn er sich selbst auch nur ein bisschen von sich selbst befreien könnte, und das verweist auf die zweite Bedeutung des Titels: Müll meint hier auch den aufgehäuften Lebensmüll.
Wir kennen Iris Hanika als eine spöttische und kluge Beobachterin ihrer Mitmenschen. In "Katharina oder Die Existenzverpflichtung" (1992) betrachtet sie das Desaster eines fremdbestimmten Lebens, ihre Prosaskizzen "Musik auf Flughäfen" (2005) sammeln alltägliche Missverständnisse und Zeugnisse der Einsamkeit, und "Tanzen auf Beton" (2012) protokolliert bizarr scheiternde Liebesverhältnisse. Ihr neuer Roman bündelt alle diese Motive auf anrührende Weise, denn seine Hauptfigur Antonius ist von entwaffnender Sanftheit. Wie Herman Melvilles Schreiber Bartleby lebt er nach dem selbstzerstörerischen Grundsatz "I would prefer not to", der ihn besonders in Liebesdingen vor Peinlichkeiten und Seelenschmerz bewahrt. Es zeugt von Iris Hanikas kluger Erzählkunst, dass ihr in diesem scheinbar gefühlsleeren Raum eine besonders intensive, dabei sehr zarte Liebesszene gelingt, die in der monddurchfluteten Küche von Antonius spielt, mit einer imaginierten Doppelgängerin an seiner Seite.
Das Buch, in drei Teilen erzählt, ist als doppelte Spiegelung gebaut. Der erste, elegant geschriebene und besonders amüsant zu lesende Teil trägt den Titel "Durcheinander" und spielt in der spätkapitalistischen Gegenwart. Antonius betrachtet die Welt wie ein Zaungast, legt Listen von besonders hässlichen Gebäuden, unangenehmen Stimmen oder Orten an, an denen Geld gefunden wurde, und ordnet den Müll in den Recyclingtonnen im Hof. Eigentlich wollte er, als Akt der Befreiung, etwas vollkommen Sinnloses tun, doch als er sich durch diese Tätigkeit unversehens in einem Knäuel aus kulturellen Einsichten und Schicksalsbegegnungen, also mitten in der Gesellschaft, wiederfindet, hört er sofort damit auf. Aber es ist schon passiert: Bei der Lektüre eines gefundenen Heftes, der schriftlichen Selbsterforschung einer gewissen Renate, bleibt er hängen. Die Schreiberin steckt genau wie er in der Mitte des Lebens fest, was Gefühlsstürme in ihm auslöst.
Die Tagebuchpassagen und seine sarkastischen Anmerkungen greifen witzig ineinander, denn diese Renate ist nicht die Allerklügste, und Antonius leidet beredt an ihren hilflosen Sätzen. Andererseits katapultiert sie ihn in seine bedrohliche Vergangenheit zurück, und so läuft alles auf den rasant, aber streng linear erzählten zweiten Teil zu. Er beginnt in den frühen neunziger Jahren und schraubt sich immer tiefer in die Vergangenheit, wo es genauso wild und chaotisch zuging wie in den Jahrzehnten danach, nur wirkt im Rückblick alles ganz stringent: Weltreiche gingen unter, Eltern wurden ermordet, Aufsteiger kämpften um ihren Platz in der Firma, waren verliebt oder eben gerade nicht, Familienfeste entgleisten. Der Leser erfährt endlich, warum Antonius in der Mitte seines Lebens aus diesem ausstieg und wie ihn die sonderbare, sehr ruhige Begegnung mit der Barockforscherin Dorothea direkt in die Katastrophe führte.
Die Autorin hat sich intensiv mit dem schlesischen Barockdichter Johann Christian Hallmann beschäftigt, nach dessen verschollenem Trauerspiel Dorothea in der Bibliothek von Antonius' reichem Vater sucht. Eine Kriminal- und Campusgeschichte wird hier miterzählt, vor allem geht es Hanika aber um eine schneidend scharfe Gesellschaftssatire und um Feldforschung in unterschiedlichen Milieus. Wie nebenbei errichtet sie ein Denkmal für das geschlagene Kind Antonius, das einem spätestens jetzt ans Herz wächst. Der dritte und letzte Teil ihres Buches heißt "Zukunft" und ist sehr kurz. Denn eigentlich, das wissen wir von Vladimir Nabokov, gibt es die Zukunft ja gar nicht.
NICOLE HENNEBERG
Iris Hanika: "Wie der Müll geordnet wird".
Literaturverlag Droschl, Graz, Wien 2015. 299 S., geb., 20,- [Euro].
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