prägende Bild seiner Kindheit waren die glühenden Trümmer seiner Heimatstadt, sein Vater fiel in den letzten Kriegstagen, er wuchs mit seiner Mutter und vier Brüdern auf. "Ich bin unter Brüdern aufgewachsen", sagt er manchmal - und meint damit die Familie und auch sein Land. Volker Braun ist ein Autor der DDR und ist es heute noch. Er selbst würde dem sofort und vehement widersprechen: "Ich habe mich immer als deutscher Dichter verstanden", schreibt er 1999 in sein Werkbuch und würde es heute wohl genauso schreiben. Aber er verkörpert den Typus des DDR-Intellektuellen wie heute kein Zweiter mehr. Und, ja, auch das ist vermutlich eine West-Projektion, eine Vorstellung, ein Bild, das man sich als BRD-Bewohner über viele Jahre von der DDR, dieser anderen Welt, gemacht hat.
"Keiner schreibt so aus der Mitte des Landes heraus, aus ihrem unaufgehobenen Widerspruch", hat Fritz Rudolf Fries einmal über diesen Volker Braun geschrieben. Braun bekam nach dem Abitur keinen Studienplatz, arbeitete in einer Druckerei, im Tiefbau des Kombinats "Schwarze Pumpe" und als Maschinist für Tagebaugroßgeräte. Er war Mitglied der SED, seit 1960, wurde jahrelang von der Stasi bespitzelt, viele seiner Dramen durften nicht aufgeführt werden, bei jeder Veröffentlichung lag er im Widerstreit mit der Zensur. Er war kritischer Teil des Systems. Seine Hoffnung auf einen "menschlichen Sozialismus" hatte er mit der Niederschlagung des Prager Frühlings aufgegeben. Wolf Biermann suchte ihn am Vorabend seiner Reise in den Westen, von der er nicht zurückkehren sollte, noch auf, um sich mit ihm zu besprechen, danach gehörte Braun zu den Erstunterzeichnern des Protests gegen die Ausbürgerung des Freundes. Die im Herbst 1989 aus der DDR flohen, nannte er "Lemminge".
Jetzt sein Werkbuch lesend, hat man den Eindruck, einen Fels zu besteigen, einen grauen Granitfelsen. Es ist alles festgefügt in dieser Welt, die Kompassnadel der Moral, der Sicht auf die Welt, scheint nie zu zittern. Einmal beschreibt er, was für ihn große Kunst ausmacht: "dass sie aus dem kern heraus haltung hat. es ist in allem etwas notwendiges, erfahrenes, heiterbewußtes, überlebenskunst." Er meint damit nicht sich selbst und sein Schreiben, so groß würde er von sich selbst nicht reden. Aber es trifft auf ihn und sein Schreiben zu.
Aus dem Kern heraus Haltung haben, das ist bei jedem kleinen Eintrag zu spüren, zu lesen. Sein Widerspruch zu der kapitalistischen Systemlogik des Alltags, Solidarität mit den Elenden, den Flüchtlingen, Arbeitslosen, Obdachlosen, Vergessenen. Staunend kommentiert er ein Publikumsgespräch in Senftenberg, bei dem jemand meinte: "Wir haben keinen Feind. Darum können wir nicht kämpfen." Braun im Buch dagegen: "aber wir haben das elend der welt. wie kann das theater mitleiden, mitdenken, als in den seelen der elenden."
Was sofort auffällt beim Lesen: die vollständige Abwesenheit von Zynismus. Auch von Selbstverliebtheit, Selbstüberschätzung. Braun schreibt diskret, engagiert, immer mehr am Nächsten und an der Welt interessiert als an sich selbst. Seine ganze Haltung ist vielleicht am besten erkennbar in dem Moment, bevor er Einblick in seine Stasi-Akten nimmt. Er ahnt schon, er wird Ungeheuerliches zu lesen bekommen, Verrat und immer wieder Verrat auch unter Vertrauten, Freunden. So wappnet er sich davor: "jetzt muss ich mich in einen indischen elefanten verwandeln, oder ein großes herz haben." Er erfährt: Selbst geliebte Heldinnen seiner Romanwelt, die Karin der "Unvollendeten Geschichte" etwa, war IM. Die Akten haben alles aufbewahrt: "auch den geschlechtsverkehr melden die korrekten spione, mit der uhrzeit. der stückeschreiber ausgeliefert der regie der hauptabteilung XX, ein gezinktes leben."
Als Leser fragt man sich immer wieder, wie der Mann das macht, wie er Haltung bewahrt, nicht hasst, verachtet, denunziert. "wenn ich etwas für unverzichtbar halte, dann den komfort des großmuts", schreibt er einmal. Was für ein schöner Satz. Aber wie schwer auch, ihm immer zu folgen. Schreibend zumindest, in diesem Werkbuch, ist Braun ihm immer gefolgt. Hier zum Beispiel, als er im Großraumwagen eines Zuges auf Teilnehmer einer Leserreise vom "Neuen Deutschland" trifft und ihn aus dieser Gruppe ein stämmiger Weißhaariger mit fester Stimme anspricht: "Ich habe Sie damals zum Studium abgelehnt", sagt der. Braun verdutzt, höflich, interessiert zurückfragend: "Wegen des Bruders in Westberlin?" "Nein. Wegen Ihrer Bewerbung. Sie waren politisch unzuverlässig und überheblich." Ende des Gesprächs. Begegnung mit einem Lebensbeurteiler von einst, ohne Reue, nein, scheinbar noch mit Stolz und der Gewissheit, das Richtige zur richtigen Zeit getan zu haben.
Dass Braun andere verurteilt, kommt beinahe niemals vor. Im Gespräch hat er einmal gesagt: "Mut? Moral? Nein. Es liegt im Gewebe, wie man sich verhält. Man hat keine Wahl." Macht ihn das milde? Manchmal, zack, verteilt er einen Nebenbeihieb, "loest, der politische dünnpfeifer". Am unverständlichsten als Person, am fremdesten und fernsten ist ihm Enzensberger. Dessen Rede bei der Entgegennahme des Heine-Preises, in der sich dieser über die deutsche Weltbesorgtheit lustig machte, erscheint ihm skandalöser als Walsers Friedenspreis-Rede. Zynismus, Überironie, Mitleidlosigkeit, Spott über Menschen, die die Welt verbessern wollen - das ist für Volker Braun der Gegenpol seiner Welt. Die ganz andere Seite, die er vorsichtig bespöttelt: "enzensberger hat wieder mal die welt erklärt."
Dass das Feuilleton immer wieder die falschen Debatten führt, regt ihn auf. Dass Peter Handke zum "schreckensmann des deutschen feuilletons" gemacht und wie wild auf ihn einfeuilletonisiert wird, statt direkt über den Krieg in Jugoslawien zu diskutieren und die Ursachen des Krieges zu beleuchten, nennt er skandalös. Dass immer die gleichen alten Herren mit klug ausgelegten Signalwörtern die Debatten bestimmen, verwundert ihn milde: "ich kann sagen was ich will. schlagzeilen mache ich nicht, die macht grass." Und wenn Frank Schirrmacher und andere in der F.A.Z. plötzlich den Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen, verliert Braun komplett die Fassung: "wahnsinn einer zeitung. jetzt muss die zwangsjacke her. ausnahmegesetze."
Das ist für den Arbeiterdichter aus dem Tiefbaukombinat Schwarze Pumpe, für den das Brechtsche "Alternativen denken" immer Lebensaufgabe war, zu viel der Sprunghaftigkeit. Obwohl auch er so gut weiß, wie wichtig Irrtümer sind für ein Leben, für ein Denken, für ein Werk. Wie wichtig es ist, die Richtung zu wechseln, sich zu täuschen, einen neuen Blickwinkel einzunehmen: "wir sollten unsere irrtümer schätzen und bekennen. sie haben das werk ermöglicht."
Auch sein neues Arbeitsbuch ist voller Irrtümer, sicherlich. Er weiß es selbst. Er vermisst auch den Streit, den Widerstand, das Widerwort von Freunden oder Feinden. Viele der Alten sind gestorben oder gleichgültig geworden in der neuen Zeit. "gegen so wenig widerstand bin ich wehrlos", schreibt Braun. Er ahnt schon, er weiß, dass er ein Letzter ist, ein Abschiednehmer, einer aus einer anderen Zeit, der auf unsere mit staunendem, verwundertem Blick schaut und die Gegenstände und die Menschen noch einmal verwandelt. "in 50 jahren werden die archäologen nach uns graben", schreibt er. Wenn sie dabei dieses Buch ausgraben, werden sie einiges besser verstehen.
VOLKER WEIDERMANN
Volker Braun: "Werktage 2. Arbeitsbuch 1990-2008". Suhrkamp, 1000 Seiten, 39,95 Euro
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