denn wer von Reinheit spricht, handelt immer auch von ihrem Gegenteil, von Befleckung, Kontamination, Hybridität.
Das erste Kapitel des Essays ist jenen "reinen Ursprüngen" gewidmet, die als Erzählungen omnipräsent sind. Wir mögen die Rede von der Reinheit als etwas Ursprünglichem für verfehlt, wenn nicht für gefährlich halten, nicht zuletzt politisch. Ihre Anziehungskraft aber ist ungebrochen. Vor den vielfältigen Beschwörungen ursprünglicher Reinheit, so Groebner, nehmen sich unsere Hybriditäts- und Rationalisierungsdiskurse erschreckend hilflos aus.
Groebner unterscheidet Erzählungen von Reinheit, die auf eine verlorene, aber nicht hoffnungslos verlorene unbefleckte Vergangenheit zielen, von Erzählungen, die Reinheit als "Reinigung" verstehen, als Ergebnis wiederholter Anstrengungen und konkreter Handlungen. Reinigung gerät auf diese Weise zu ritueller Arbeit, die ausschließlich der Rückkehr zu geträumten Anfängen gewidmet ist, zu Ur-Vergangenheiten, die verunreinigt und damit zerstört worden seien - und die es wiederzugewinnen gelte.
Gleichzeitig aber, so Groebner im zweiten Kapitel, ist Reinheit immer auch ein individueller Wunsch, der den eigenen "reinen Körper" als ursprünglichen, unvermischten Selbstzustand im Blick hat: vom Zähneputzen bis zur Ayurveda-Kur. Ein Wunsch, der allerdings nur in je einschlägigen "Zugehörigkeitsgemeinschaften" erfüllbar zu sein scheint, die ihrerseits mehr oder weniger kollektiven kulturellen Codes von Reinheit folgen, auch wenn diese Codes nicht immer unmittelbar erkennbar sind. Zugehörigkeitsgemeinschaften wiederum ziehen Grenzen an den Rändern "ihrer" Reinheit. Genau dort aber, wo die eigene Reinheit endet und die andere, die "fremde" beginnt, entstehen "Gefühls-, Befürchtungs- und Erregungsgemeinschaften", wie Groebner sie nennt, die "ihre" Reinheit bedroht sehen und deshalb umso aggressiver beschwören.
Die Frage, wie Reinheit beschworen werden kann, behandelt Groebner am Beispiel der Jungfrau Maria, der Verkörperung weiblicher Reinheit schlechthin im christlichen Europa. Er zeigt etwa, wie die Milch der Muttergottes als visueller Code für Reinheit fast nahtlos in die Warenwelt der Moderne übersetzt wurde, wanderte das Weiße der jungfräulichen Milch doch im Zeitalter der Industrialisierung "von der Brust auf die Haut". Reinheit war endgültig weiß - und schön - geworden.
Das aber heißt auch: Obwohl viele nicht mehr an die geweihte Hostie als den reinen Leib Christi und an die unbefleckte Empfängnis Marias glauben oder nicht einmal wissen, worum es sich dabei handelt, scheinen die Embleme, Formen, Farben und ikonographischen Anordnungen, mit denen diese und andere Erzählungen von Reinheit seit dem Mittelalter in Szene gesetzt wurden, wenig an Überzeugungskraft und Deutungsmacht verloren zu haben. Die tradierten Bilder imaginärer reiner Körper, so Groebner im dritten und abschließenden Kapitel, seien immer noch allgegenwärtig und fänden ihr Publikum: ob als Werbung für Mund- und Mineralwasser, Milch und Milchprodukte, Kosmetika, Putzmittel und Badeessenzen oder für ganze Landschaften wie die Alpen. Wobei Reinheit als Idee von Ursprünglichkeit allem Anschein nach am besten zu vermarkten ist, wenn die (oft genug schmutzigen) Herstellungsbedingungen der jeweiligen Ware unsichtbar gemacht werden. Reinheit ist im Grunde nur Reinheit ohne "Vorgeschichte" und ohne Erinnerung an ihre eigene Produktion.
Groebners Antwort auf die Frage, warum die tradierten Bilder immer noch wirken, lautet: Reinheit sells! Wer von Reinheit spricht, will etwas verkaufen, wie schon die Bettelmönche des späten Mittelalters mit ihren Askeseofferten. Der Reinheitsmarkt boomt und macht sogar den Antikonsum zum Konsumangebot. Aber reicht diese Antwort? Aus einer Perspektive, die unsere visuelle Alltagskultur im Blick hat, wohl. Aus einer Perspektive aber, die Vorstellungen von Reinheit vor allem dort am Werk sieht, wo es um kollektive Zugehörigkeiten geht, wohl nicht. Aber das weiß letztlich auch der Autor.
PETER BURSCHEL
Valentin Groebner: "Wer redet von der Reinheit?". Eine kleine Begriffsgeschichte.
Passagen Verlag, Wien 2019. 106 S., br., 11,90 [Euro].
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