auch schon ein gelungenes Kunstwerk, dessen Lektüre über individuelle Anteilnahme und Einsicht in die Stadien der Trauer hinaus intellektuellen und ästhetischen Gewinn vermitteln kann.
So hat sich Anna Mitgutsch mit ihrem neuen Roman eine große Aufgabe gestellt, denn auch dieses Buch ist eine umfassende Totenklage. Auf den ersten Seiten lesen wir von der letzten Begegnung der in Österreich lebenden Ich-Erzählerin mit dem Amerikaner Jerome, dem Mann, den sie vor fünfunddreißig Jahren geheiratet und von dem sie sich vor fünfzehn Jahren getrennt hat, ohne dass ihre Liebe zu ihm je aufgehört hätte. Ein Neuanfang scheint möglich, doch der plötzliche Tod des herzkranken Jerome setzt allen Hoffnungen ein jähes Ende. So weit der Anfang. Die folgenden Kapitel erzählen von den Tagen und Monaten nach dem Schock der Todesnachricht, sie schildern Begräbnis und Trauerwoche, bei der sich die liebende Ex-Frau von den Verwandten und Freunden des Toten misstrauisch beobachtet und ausgegrenzt fühlt, weil sie keinen Status als rechtmäßige Witwe beanspruchen kann; sie beschreiben die wachsende Annäherung an ihre erwachsene Tochter, und sie berichten von der Erstarrung und der Einsamkeit, die die Erzählerin beim Leerräumen des einst gemeinsam bewohnten Hauses in Boston erlebt.
In langen Monologen entsteht allmählich die Chronik einer komplizierten Verbindung, in der unterschiedliche Lebensgeschichten und fremde Familientraditionen zusammenkamen. Während eines Fluges nach Israel hatte die junge, unbekümmerte Erzählerin vor fast vier Jahrzehnten ihren künftigen Ehemann kennengelernt. Damals konnte sie noch nicht wissen, dass er, Nachkomme europäischer Juden, in den israelischen Archiven später intensiv dem Schicksal seiner Tante nachspüren würde, die von den Nationalsozialisten ermordet wurde.
Von den Lasten der politischen Geschichte ist in den Anfängen dieser transkontinentalen Liebe allerdings wenig zu spüren. Einige Jahre nach der ersten Zufallsbegegnung besucht die Erzählerin Jerome in seiner nordamerikanischen Heimat und entdeckt in ihm einen faszinierenden Unterhalter, einen einfühlsamen Liebhaber und einen vielseitigen Lebenskünstler, der ihr ein Leben als Königin an seiner Seite verspricht. Was wie eine kitschige Romanze beginnt, nimmt allerdings schnell kompliziertere Formen an. Denn Jerome verliert auch in seiner Ehe nicht seinen "unstillbaren Appetit auf alles, was das Leben ihm zu bieten hatte", wie seine Frau später seine notorische Untreue zu umschreiben versucht. Seit dem Beginn ihrer Verbindung musste sie Jerome mit anderen teilen. Später, beim Räumen des Hauses, entdeckt sie so viele Fotografien von seinen Freundinnen, dass sie am Ende "Müllsäcke voller Frauen" entsorgt, nicht ohne das Gefühl des späten Triumphes über ihre Rivalinnen.
Das Quantum der Affären mag übertrieben klingen, doch gehörte Maßlosigkeit zu den beständigsten Eigenschaften Jeromes, dessen Charme sich die Erzählerin auch nach der Scheidung nie entziehen konnte. Dass auch sie Trost und Ablenkung außerhalb ihrer Ehe suchte, wird nur angedeutet, wie wir überhaupt über ihr Leben, ihre Interessen und Arbeit kaum etwas erfahren. Jerome war ein begabter Anwalt, von dessen Erfolgen und Niederlagen in den Erinnerungen seiner Frau viel die Rede ist. Dass aber auch sie offenbar immer ein unabhängiges Leben als Schriftstellerin gesucht hat, wird nur beiläufig geschildert. Selbst ihr eigentlicher Name wird nicht genannt; nur einmal erwähnt sie, dass sie bei der Konversion zum Judentum, die aus Liebe zu ihrem Mann geschah, den neuen Namen "Michal" angenommen hat.
Man kann diese Diskretion der Erzählerin bedauern, und Spekulationen über Parallelen zur Biographie von Anna Mitgutsch - sie wurde 1948 in Linz geboren, ist also etwa so alt wie ihre Protagonistin, und auch sie hat viele Jahre in nordamerikanischen Universitätsstädten verbracht - mögen sich anbieten, bleiben aber für das Verständnis des Romans unerheblich. Denn dieses Buch ist kein Schlüsselroman, erforscht vielmehr geradezu obsessiv die Bedingungen einer komplizierten Liebe, die über Jahrzehnte hinweg absolute Nähe und Verschmelzung sucht, ohne die eigene Individualität aufgeben zu müssen. Dass dies im Grunde ein unmögliches Ziel ist, ahnen die Liebenden von Anfang an. Ihr rührender Verlobungsvertrag, den die Erzählerin in der Hinterlassenschaft ihres Mannes findet, ist ein Versuch, das paradoxe Ziel in klare Regeln zu fassen: Jeder sollte dem anderen sein Leben lang der nächste Mensch bleiben, "ohne ihn daran zu hindern, eigene Wege zu entdecken und ihnen zu folgen".
Jeromes Wege führten ihn nicht nur fortwährend zu anderen Frauen, sie waren zudem stark mit den Traditionen des liberalen Judentums verknüpft, und so wird der Roman unter der Hand auch zu einer Einführung in modernes jüdisches Brauchtum, was ihn mitunter etwas überladen erscheinen lässt. Ob Schabbat-Mahl, Rosch ha-Schanah oder die Pflicht zum Kadddisch-Gebet für den Verstorbenen - Mitgutschs Erzählerin erklärt alle diese Rituale mit dem Eifer der Konvertitin; ein Glossar am Ende des Buches listet noch einmal in schönster didaktischer Klarheit alle jüdischen Wörter und Begriffe auf.
Die existentiell empfundene Trauer folgt aber eigenen Gesetzen und ist nicht an die Regeln einer Religion gebunden. Nach Ablauf des Trauerjahrs liest die Erzählerin auf dem Grabstein die Botschaft der Hinterbliebenen an Jerome als Sohn, Vater, Bruder und Freund. Für sie als einstige Ehefrau, die damals die Scheidung gewollt hat, bleibt in dem ritualisierten Gedenken kein Ort. Diese Einsicht gehört zu den bitteren Erkenntnissen dieser Totenklage, die ihre Leser im Ungewissen darüber lässt, ob die Trauernde zu einem Neuanfang jenseits ihres Lebens mit Jerome finden wird. Dieser Verzicht auf wohlfeilen Trost verleiht diesem Buch trotz mancher Unausgewogenheiten in seinen Proportionen eine eigene Würde und Wahrhaftigkeit.
SABINE DOERING
Anna Mitgutsch: "Wenn du wiederkommst". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München. 2010. 272 S., geb., 19.95 [Euro].
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