Zwar wirkt der Schwall von Fachbegriffen - Seehundstart, Paddelhangrolle, Prallpolster, Süllrand - wie eine kalte Dusche. Aber dafür läßt Parks die Metaphysik des Extremsportlers zu Wasser: Wer seinen von der Zivilisation eingeschnürten Körper wieder spüren, wer eine auf den Abgrund zutreibende Welt retten will, muß sein dahindümpelndes Schifflein in wildere Gewässer steuern. Das Leben ist ein langer, unruhiger Fluß, und nur wer den Strudeln physisch zerbeult und seelisch gestärkt entsteigt, bekommt Adrenalinschübe, wertvolle Erfahrungen und den Kajakschein. Aber nicht unbedingt einen großen Roman.
Was der Abenteuerurlaub für Pfadfinder und schwererziehbare Kinder, ist die Incentive-Reise für leitende Angestellte: ein Betriebsausflug, der mit Mutproben und kollektiven Erfahrungen in freier Natur den inneren Schweinehund überwältigen und Teamarbeit einüben soll. Parks schickt neun Jugendliche und sechs Erwachsene auf einen Weißwasserparcours, der das klassische Abenteuer-Setting absteckt. Wer ihn übersteht, ist nicht unbedingt fit für die Karriere, aber pädagogisch sensibilisiert für die Risiken und Nebenwirkungen des entfesselten Kapitalismus.
Clive, der Kursleiter, versagt als Start-up-Unternehmer; um so mitreißender und charismatischer ist er als Menschenfischer und Globalisierungskritiker: Kajakfahren auf Gletscherflüssen, deren Anschwellen vom Treibhauseffekt kündet, ist für ihn Einübung in sanften Tourismus und ökologische Achtsamkeit, praktizierte Gesellschaftskritik und Solidarität. Im Angesicht einer erhabenen Natur sollen die Leichtmatrosen aus den seichten Gewässern Englands ordentlich Ehrfurcht lernen: Ein Fünftagekurs Kajakfahren ist schließlich nicht Sport oder gar Urlaub, sondern knochenharte Selbst- und Gemeinschaftserfahrung. Dem wettergegerbten Fundamentalmoralisten Clive ist im heiligen Krieg jedes Mittel, selbst Lagerfeuerpredigten und Militanz, recht. Seine Schüler dagegen suchen vor allem "machbare" Herausforderungen und abends Flirts bei Bier und Hühnertanz: Ihr Stahlbad heißt Fun. Auch Michela, die junge Freundin des Aussteigers, ist von seiner Radikalität überfordert. Einerseits verehrt sie Clive und fordert dauernd eine große, aufrüttelnde Tat von ihm. Aber als ihr Abgott aus dem falschen Leben wie auch aus dem gemeinsamen Bett aussteigt, um zölibatär zu leben, bis ihm "etwas Ernsthaftes gelungen" ist, stürzt sie sich verzweifelt in den Abgrund. Clive rettet seine Geliebte, aber nur, um sie im Koma allein zu lassen und überstürzt zur Berliner Klimakonferenz aufzubrechen: Der prometheisch schäumende Aufrührer, der seine Jünger Mores und "Paddeln wie die Götter" lehren wollte, weiß vor lauter Mut und Wut und Liebe keinen anderen Ausweg mehr als die Flucht in ein Selbstmordattentat.
Parks paddelt eher menschlich behäbig im alten Fahrwasser: der Fluß ohne Wiederkehr als existentielle Bewährungsprobe. "Wenn Jungs zu Männern werden, werden aus Männern Jungs", und so wachsen stille Wasser an Felsen und Schluchten; aus höheren Töchtern werden Frauen, aus Maulhelden greinende Kinder oder Helden. Der Versicherungsvertreter Adam gibt Clive politisch und gruppendynamisch Contra und seinem Sohn Saures; Keith, der dickliche Betreuer, offenbart Abgründe seiner bräsigen Jugendherbergsväterlichkeit, seine Kollegin Mandy die Einsamkeit hinter ihrer mütterlich munteren Fürsorge.
Im Zentrum des Romans aber steht Vince, ein Londoner Banker, der anfangs noch in Pfützen kentert, aber unter Schmerzen und Todesangst bald lernt, daß es Wichtigeres als Erfolg und ökonomische Rationalität gibt: Gefühle zum Beispiel, Demut vor der Schöpfung, die Auseinandersetzung mit dem Tod seiner Frau, mit seiner zickigen Tochter Louisa oder auch den globalen Folgen seiner "Transaktionen". Als der Heißsporn Clive Michela auf dem Altar seines politischen Engagements opfert, ist es Vince, der sich aufopfernd um sie kümmert. So wächst zusammen, was nicht zusammengehört: der Banker und das Mädchen, Alt und Jung, feuriger Idealismus und kühler Sachverstand, Trauer- und Beziehungsarbeit, England und Italien.
Parks hält seinen nüchtern-lakonischen Ton bis zuletzt durch; aber er hat Menschen, die in "Gedankenstrudeln" und Familientragödien unterzugehen drohen, schon weniger plakativ beschrieben, zuletzt in "Doppelleben". Daß Parks gern vom "bärtigen Mann" und dem "hübschen Mädchen" spricht und seine Wildwasser-Metaphorik überdeutlich markiert, lenkt seine wilde Fahrt auch sprachlich ins Kehrwasser. "Weiße Wasser" ventiliert seriös und - jedenfalls für Kanuten - durchaus spannend letzte Fragen. Aber das wilde Wasser der Leidenschaft verläßt kaum einmal das Bett des Melodrams, und so schwimmt Parks' Roman mit dem Strom, gegen den seine Figuren zu leben behaupten.
Tim Parks: "Weißes Wasser". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Becker. Kunstmann Verlag, München 2005. 271 S., geb., 19,90 [Euro].
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