kulturellen Erzeugnissen hervorgegangen - aus den Lumpen und Hadern, den ausgeschiedenen Geweben aller Art.
Dass der kulturelle "Rohstoff" par excellence ein Abfallprodukt ist, hat deutliche Spuren in Texten hinterlassen, in denen - auf Papier - vom Papier die Rede ist. Im christlichen Kontext war der Einladung kaum zu widerstehen, die Verwandlung von schmutzigen Lumpen in Papier allegorisch zu überhöhen. Auferstehung wird zum Thema, wenn aus der vernutzten Leinwand der verwandelte Stoff des Papiers hervorgeht, auf den sich nun sogar das Gotteswort schreiben oder drucken lässt. Je strahlender sein Weiß vorgestellt wurde, umso entschiedener ließ sich die Parallele zum Abstreifen des alten Adam instrumentieren: "Hervor aus altem Sünden-Stand / Ganß neu und rein, dass Gottes Hand / Auff dich mög seinen Willen schreiben." Und freilich hatte dann auch das weiße Blatt, auf das zwar nicht Gottes, sondern des Autors Hand dessen Inventionen schrieb, eine große und von manchen Anspielungen begleitete Zukunft vor sich.
Für solche alten wie modernen Evokationen des Papiers findet man in Lothar Müllers Buch über "Die Epoche des Papiers" viele Beispiele. Klein ist auch nicht das Feld, das sich der Literaturwissenschaftler - und Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung - dieses Mal abgesteckt hat. Es geht um den stofflichen Aspekt im engeren Sinn, also die Techniken der Papierherstellung; genauso aber um die zentralen Funktionen von Papier als Medium der Speicherung und Zirkulation; und nicht zuletzt um Papier in all seinen Formen als Anlass, um gerade die auf Papier basierenden Kulturtechniken selbst zu verhandeln. Alles kommt da auf das Geschick des Autors an, die Wechselwirkung zwischen diesen verschiedenen Momenten an gut gewählten Beispielen vor Augen zu führen. Keine ganz leichte Aufgabe, doch Lothar Müller zeigt, wie sie sich in einen beeindruckend elegant bewältigten und überaus anregend zu lesenden Parcours quer durch die Geschichte verwandeln lässt.
Es ist eine früh beginnende Geschichte, in der man aber nach den chinesischen Anfängen und den Innovationen, die mit den Transfers der Techniken zur Papierherstellung nach Arabien, Kleinasien und schließlich Europa verknüpft sind, recht schnell im dreizehnten Jahrhundert angekommen ist. Die Erfindung des Buchdrucks meint man da vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Papiermühlen fast schon im Blick zu haben. Aber es ist eine der Pointen von Müllers Darstellung, der Attraktionskraft der Druckerpresse als zentraler Instanz des neuzeitlichen Medienumbruchs nicht nachzugeben. Es wird vielmehr die Perspektive des bald schon bedruckten wie des weiterhin - in Akten, Briefen oder Exzerpten - beschriebenen oder auch zu anderen Zwecken verwendeten Papiers benutzt, um eingefahrene Sichtweisen auf den Übergang von script zu print zu korrigieren.
Zu spüren bekommt das einer der Interpreten dieses Übergangs, Marshall McLuhan, der an ihn Anfang der sechziger Jahre die These vom Wechsel zu einer visuellen und streng linearen Darstellungsform geknüpft hatte, von der uns erst wieder die elektronischen Medien befreit hätten. In nuce führt Müller seine Korrektur dieser Betrachtungsart vor Augen, indem er sich einem für McLuhan paradigmatischen Autor dieses Übergangs zur Druckkultur in einer anderen Lesart nähert. François Rabelais nämlich, dessen von vielen Interpreten umkreistes Universalkraut, das Pantegruelion, er als Sinnbild des Buches nimmt, "Gargantua und Pantagruel", in dem von ihm gehandelt wird - und das deshalb gerade nicht, wie bei McLuhan, zum einfachen Emblem für den Eintritt in eine sinnenarme typographische Ära taugt.
Der Großtheorie auf diese Weise eine prominente Zeugenfigur abspenstig zu machen ist ein elegantes Verfahren. Der Leser erfährt nicht nur auf knappem Raum etwas über entscheidende Neuerungen zu Herstellung und Gebrauch von Papier, sondern lernt gleichzeitig Autoren und ihre Werke näher kennen. Ob das Cervantes ist, Jean Paul oder Lichtenberg, Dickens oder Melville, Balzac oder Zola, Heinrich Mann oder James Joyce - immer wird dabei die Maxime beherzigt, ihre Texte nie bloß als Illustrationen zu gebrauchen, sondern sie tatsächlich als eigenständige Reflexionsfiguren der verschiedenen Papierregime zu lesen.
So erhält der Leser eben nicht nur Abrisse des Übergangs zur mechanischen Papierherstellung, zur Umstellung auf den Rohstoff Holz oder der damit möglich gewordenen Explosion billiger Druckerzeugnisse und der Massenpresse. Er wird zugleich in Werke hineingezogen, die sich auf diese Entwicklungen einen Reim zu machen suchen.
Wobei Müller von Studien rund um die Geschichte des Papiers - von Aktentechniken über kaufmännische Buchführungpsraktiken bis hin zu Formaten, Qualitäten und Wasserzeichen - genauso zu profitieren weiß wie vom Reiz der literarischen Spiegelkabinette der verschiedenen Autoren, in denen der gedruckte Text sich selbst zum Gegenstand macht - und der Lumpenursprung des Papiers sich in der Neigung niederschlägt, auch Makulatur dabei als Ausgangsstoff in Betracht zu ziehen.
Man möchte vieles an diesem Buch loben, das gegenwärtige Debatten um Verluste und Gewinne beim Terraingewinn der Bildschirme - Stichwort E-Book - mit einem soliden Kontrapunkt versieht. Vielleicht aber vor allem dies: Dass eine an Medien und Materialien interessierte Darstellung auch Lust darauf macht, sich in die herangezogenen Autoren zu vertiefen. So etwas ist man gar nicht mehr recht gewohnt.
Lothar Müller: "Weiße Magie". Die Epoche des Papiers.
Carl Hanser Verlag, München 2012. 383 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
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