theologischen und literarischen Würden und wird zur bloßen Tatsache. Jedenfalls für denjenigen, der, um nachts zur Toilette zu gelangen, sich aus dem Bett fallen läßt und nackt durch eisige Flure kriecht. Was die versehrte Waise diese und viel härtere Prüfungen überstehen läßt, ist ein Kampfgeist, der menschliche Niedertracht schweigend registrieren, sich an Erlebnissen von Liebe oder Schönheit jedoch vollzusaugen versteht wie ein Kamel, bevor es die nächste Wüste durchquert.
Ein Held sei er, stellt Ruben Gonzalez sich vor, weil ihm keine andere Wahl bleibe. In seiner Lebensprosaernte, die nach ihrer russischen Erstveröffentlichung ihm im vergangenen Jahr den russischen Booker-Preis einbrachte, kristallisiert sich die Welt zu zweiundvierzig Schlüsselepisoden, -figuren, -bildern von höchster Schicksalsladung. Der im Kinderheim Bücher verschlingende Autor begreift nicht, wie gesunde Menschen überhaupt verzagen können. Ein einbeiniger Freund, der einen Winter lang für den Zweikampf mit einem gesunden Nebenbuhler trainiert hat, ist über dessen Willenlosigkeit erschüttert.
Auch jener krampfgelähmte Anstaltsgenosse, der sich nachts zum Schulaufgabenmachen ins Klassenzimmer schleppt, oder der vom Schlag getroffene Straflagerveteran, der mit seinem bleischweren Krückstock die Zwangsverlegung in die Sterbeabteilung abzuwenden vermag, lassen spüren, wie der Kompressionsdruck von Lebenswidrigkeiten Sinne schärfen und Energien mobilisieren kann, während sie unter komfortablen Bedingungen abstumpfen. "Man möchte sich geradezu etwas abschneiden", kommentiert der Moskauer Verleger Alexander Iwanow die Wirkung der Lektüre.
Gonzalez' Buch nimmt mit in eine Normalhölle, aus der kaum jemals literarische Funksprüche an die lesende Öffentlichkeit dringen. Darin werden invalide Waisen, die keine Berufsarbeit leisten können, nach dem Schulabschluß kurzerhand ins Altersheim verfrachtet - was sie in der Regel um wenige Wochen überleben. Wie jener mit achtzehn Jahren zehn Kilo schwere Genka, der soeben noch für eine Schülerin schwierige Mathematikaufgaben löste. Gonzalez hat aus dem Altersheim fliehen können. Seine Aufzeichnungen aus dieser Unterwelt führen vor Augen, daß sich der Mensch auch im hiesigen Überlebenskampf zu furchtbarer Erhabenheit aufraffen kann. Beispielsweise jene Greisin, die andere füttert, um nicht selbst bettlägerig zu werden, oder jener beinlose General, dessen Selbstmord schrecklich und würdevoll ist wie der eines antiken Stoikers.
Die von den Erziehern empfohlene Lebensweisheit besteht in pflichtschuldiger Dankbarkeit, Geduld und der Universalmedizin Wodka. Der gelehrige Spanier beherzigt alle drei. Seinen Lebenstreibstoff jedoch hat er offenbar aus der in Rußland zäh wuchernden Liebe gesogen, deren merkwürdigen Metamorphosen er eindrucksvolle Denkmäler setzt. Etwa jener alten Frau, die als Einbrecherin der Wohltätigkeit über den Anstaltszaun klimmt, um das hilflose Kind mit Pfannkuchen zu füttern. Den göttergleichen Pflegeschwestern, die man aus Kindheits- und Krankheitstagen kennt. Oder aber jenem betrunkenen Soldaten, den der Held an seine verstümmelten Afghanistan-Kameraden erinnert. Es erscheint wie ein Sinnbild für die lebensspendenden Mißverständnisse, zu denen auch die Wortkunst gehört, wenn das trüb flackernde Bewußtsein dieses wilden Mannes in ihm den Bruder erkennt.
Ruben Gonzalez Gallego: "Weiß auf Schwarz". Ein Bericht. Aus dem Russischen übersetzt von Lena Gorelik. Verlag SchirmerGraf, München 2004. 224 S., geb., 17,80 [Euro].
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