Zuverlässige, ganz andere Dinge nach Hause bringt, als auf der Einkaufsliste stehen?
Auf dem Buchumschlag ist eine Kinderrutsche abgebildet, deren Ende in einer quadratischen Betonwand steckt. Das Objekt von Ronald Kodritsch passt kongenial: In den zehn Kurzgeschichten dieses Bandes erfährt die wunderbare Rutschpartie Kindheit mehr als nur einen Dämpfer. Hier steht am Ende kein liebender Elternteil, um den Sprössling aufzufangen. Hanno Millesis berückend abnorme Kinder sind ihren Erziehungsberechtigten ausgeliefert und ganz auf sich gestellt, die Aussicht auf und die Einsicht in die Welt sind ihnen gleichermaßen schmerzhaft vermauert. Vater und Mutter erscheinen als schwer durchschaubare Wesen, die ein harmonisches Familienleben inszenieren, während sie hinterrücks ganz andere Zwecke verfolgen.
Was macht zum Beispiel ein Kind, das entdeckt, dass es neben der Sprache, die die Eltern in seiner Gegenwart sprechen, eine ganz andere, elaborierte gibt, die sie dem heimlichen Gebrauch vorbehalten haben, etwa zum Zwecke des Streitens? Das mit dem Sohn praktizierte verstümmelte und verkicherte Babydeutsch dient offenbar dazu, ihn von der Sprache der Erwachsenen auszuschließen. Und wie fühlt sich ein Junge, dessen Erzeuger aus irgendeinem ihm nicht bekannten Grund seine Nähe meiden, den Tisch nur für zwei decken und versuchen, ihn beim Museumsbesuch abzuhängen? Was Wunder, dass Millesis Kinder wirken, als hätten sie heimlich Kafka gelesen, ein wenig ältlich, auch altklug, mitunter gar monströs. Wenn sie gegen die Perfidie der Eltern aufbegehren, fallen sie aus dem üblichen Täter-Opfer-Schema heraus. Meistens jedoch reagieren sie mit Überanpassung an das elterliche Regelwerk, mit überbordendem Verständnis, ja Rührung angesichts drastischer Maßnahmen zum Wohle der Gemeinschaft: eine Art familiäres Stockholm-Syndrom.
Auch jene Väter und Mütter, die zu ihren Kindern stehen, tun dies auf eher irritierende Weise. In "Maßnahmen" unternimmt ein Paar brachiale Strafaktionen, wann immer sein Kind mit jemandem Streit hatte - nicht gegen das Kind wohlgemerkt, sondern gegen dessen Widersacher. Hanno Millesis Musterfamilie ist Gefängnis nach innen und Festung nach außen. Da täuscht einer, im Einverständnis mit seinem Vater, vor, täglich in die Schule zu gehen, obwohl er schon vor geraumer Zeit davon verwiesen wurde. Keinesfalls soll der Familienfriede durch das soziale Abstiegssignal gestört werden. Allerdings entdeckt der Sohn bald, dass auch sein Vater sich "werktagsüber" (so der Titel der Erzählung) in der Stadt herumtreibt, anstatt, wie alle glauben, sein Tagwerk in der Bank zu verrichten. Wer weiß, ob nicht auch die Mutter aus purer Rücksichtnahme die Hausfrau nur spielt und in Wahrheit für den Lebensunterhalt aller sorgt?
Als Millesi diese Geschichte vergangenen Sommer beim Bachmann-Wettbewerb las, quittierte Juror Karl Corino sie mit dem inzwischen legendären Einwand, er habe die österreichischen Schulgesetze konsultiert, und die machten es absolut unmöglich, einen Schüler von der Schule zu weisen, ohne dessen Eltern zu informieren.
Nicht nur in der raffinierten Titelerzählung "Wände aus Papier" führt der Autor seine Leser an der Nase herum: Wir sollen glauben, die beängstigenden Geräusche, die das Kind jenseits der Zimmerwand erlauscht, verdankten sich dem elterlichen Intimleben. Das stimmt auch, indes besteht die Intimität aus veritablen Prügelfesten: "Die Vorstellung, meine Eltern hätten sich allergrößte Mühe gegeben, die zwischen ihnen offenbar unvermeidlichen Gewalttätigkeiten so lautlos wie irgend möglich auszutragen, um mich nicht ärger zu beunruhigen als notwendig, rief bei mir noch Jahre danach ein Gefühl tiefer Rührung hervor." Solche Kinder sind therapieresistent, weil ihre Welt gar keine Krankheit kennt. Was aus den Fugen ist, halten sie durch ihr Mantra der Musterfamilie zusammen.
Gewöhnlich hat der Kinderblick in der Literatur etwas mild Erheiterndes: Wir lächeln nachsichtig, weil wir zu wissen glauben, dass die Welt ja anders ist. Hanno Millesi zwängt Kind und Wirklichkeit in ein akkurat gefügtes Bürokratendeutsch, das dem Thema alle Gefühligkeit austreibt; seine kindlichen Ich-Erzähler zwingen uns, die Realität nach ihrer Façon zu sehen: als eine wahnwitzige Veranstaltung. Zum Lachen gibt es auch da genug, am meisten vielleicht in der Geschichte vom Vater, der sich für ein Abbild des Schauspielers Jean-Pierre Léaud hält, oder in jener vom lüsternen Knaben, der, das übliche Verhältnis umkehrend, einen arglosen Kaufhauskunden unsittlich belästigt, Urbild der "verfolgenden Unschuld", um es mit Karl Kraus zu sagen.
Hinter all den "Wänden aus Papier" sieht der Leser etwas, was er sonst nirgends zu sehen bekommt - allein das macht Hanno Millesi zu einer unverwechselbaren Stimme der jüngeren Autorengeneration.
DANIELA STRIGL.
Hanno Millesi: "Wände aus Papier". Luftschacht Verlag, Wien 2006. 148 S., geb., 16,90 [Euro].
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