kaum bewirken: "Als ich am Morgen wach wurde, sah ich durch das Fenster Wolken, in verschiedene Figuren verwandelt. Die erste sah aus wie ein Fuchs, die zweite wie ein Pferd, die dritte wie ein Fisch, die vierte wie ein Hahn, die fünfte wie ein Schwein, die sechste wie eine Blume, die siebte wie ein Segelboot, die achte wie ein Vogel, die neunte wie ein Flugzeug. Jede Wolke hatte eine andere Gestalt. Ich war so in sie vertieft, dass ich nicht hörte, wie Mutter mich zum Frühstück rief. Ich hörte sie erst, als sie wieder ins Zimmer kam. Nach dem Frühstück betrachtete ich wieder die Wolken."
Der 1958 geborene Aleksic, der in Belgrad Kunstgeschichte studierte und seit 2006 in den Vereinigten Staaten lebt, ist ein Meister der Andeutung, des kunstlosen, alltäglich daherkommenden Understatement. Bela Crkva (zu Deutsch: weiße Kirche), das Dorf der Kindheit des Ich-Erzählers dieser Zwei-, Drei-, allerhöchstens Fünfminutengeschichten, könnte in mythischer Zeitenferne irgendwo am Donaueck zwischen Rumänien, Ungarn und Ex-Jugoslawien liegen, wenn nicht auch da die vermeintliche Archaik gebrochen wäre durch Technik und Zivilisation, die jedoch höchst eigentümlich verwandelt das Leben der Bewohner durchdringen: Die Welt des "Fortschritts" wird auf der Folie dörflicher Erfahrung an Hof und Herd geholt.
So erklärt die Mutter, weshalb der Vater nicht zum Kommunisten tauge: Er könne nicht gackern wie die Hühner. Und vor dem Radio "warten" Bruder und Schwester "auf Wörter", um mitzusingen, bis es von der Mutter heißt: "Die werden nie anfangen zu singen. Das ist Ernste Musik. Sie können den ganzen Tag so weitermachen." Aber die große Welt schenkt dem Ich ebenso die Buntheit der Farben, Papier und Stifte zum Abpausen seines kleinen Glücks: "Meine Schwester und ich hatten zwei Bilderbücher. Ihres war ,Aschenputtel', meins ,Der gestiefelte Kater'. Gemeinsam gehörte uns ein Bilderbuch aus Pappe, das man wie eine Ziehharmonika öffnete. Ich legte das durchsichtige Papier von Vaters Zigaretten über die Bilder und pauste die kleinen Tiere ab: Ferkel, Zicklein, Entchen, Küken und Gänschen. Große Tiere passten nicht darauf."
Solche Art beiläufiger, gänzlich unheroischer Souvenirs haben ihre Vorbilder jenseits bukolischer Dorf-, Bauern- und Balkangeschichten. Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 mit ihren melancholischen Miniaturen einer vor ihrer Verselbständigung stehenden Moderne gehört ebenso wie Robert Walsers kindlich-naive Betrachtung der beiläufigen, ,verworfenen' Sachen zur Ahnenschaft von Aleksics Prosa. Was da ist, und sei es noch so klein, wird als Offenbarung hingenommen - mit lakonischen Worten, in denen Weltfremdheit, -vertrauen und Staunen wie in einem Brennspiegel zusammenschießen: "Meine Schwester sagte: Mutter hat uns Rumwürfel gekauft. Sie lief in die Küche, kam sofort wieder und tat neben dem Gitter an meinem Bett das weiße Papier fort. Hier, einer für dich, einer für mich." Auch Humor steckt in dieser scheinbar ,beschränkten' Sicht der Dinge, ein absurder, manchmal bizarrer Humor, der an Tschechow oder Daniil Charms' Fälle, auch an den Zen-Buddhismus und Beatniks vom Schlage Richard Brautigans erinnert: "Wir hörten, wie Vater im Hof vor der Haustür den Schnee abklopfte, wie er auf seinen Ledermantel schlug. Als er hereinkam, leuchtete sein Haar von vielen winzigen Tropfen. Er hängte seinen Mantel an den Nagel vor der Tür. Während wir Mehlsuppe aßen, fiel der Mantel auf den Boden. Die Schlaufe war gerissen. Nach dem Abendessen nähte Mutter die Schlaufe wieder an. Als sie fertig war, durchtrennte sie den Faden mit den Zähnen."
Humor, der sich nicht an Armut und Rückständigkeit der Porträtierten ergötzt, sondern stattdessen mit ihnen sich über unsere Welt wundert, die jede Selbstverständlichkeit zum Problem stilisiert. Aleksics Leute sind ohne jede Erklärung, ohne jeden "Begriff" ihres Daseins glücklich, in der Welt der einfachen Dinge zu Hause. Das kann schmerzlich sein, weil die Welt jenseits des Dorfs es ihnen nicht mit gleicher Münze vergilt; schon die Zugfahrt zum Großvater lässt wegen des mangelnden Reisegeldes Verlegenheit aufkommen. Am Ende stirbt ein graugesprenkelter Kindheitshahn, und die Familie zieht in ein Stadthaus mit Fenstern nach Norden um. Das Glück, das der Protagonist an der Dorfkreuzung erfuhr, bleibt nur im Buch bewahrt - doch es überträgt sich auf den Leser, der dadurch tatsächlich die Welt mit neuen Augen sehen kann. Dragan Aleksic ist kein bloß melancholischer Erzähler. Er ist ein Poet des Staunens, der das Glück der kindlichen Anschauung vom einfachen Da-Sein der Welt für unbezahlbare Momente der Muße in uns zu wecken vermag.
JAN VOLKER RÖHNERT
Dragan Aleksic: "Vorvorgestern".
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011. 105 S., geb., 14,90 [Euro].
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