ihrem fabelhaften Deutsch zu gratulieren, weil ihr Äußeres darauf schließen lässt, dass in ihrer Familiengeschichte eine Migration stattgefunden hat - wie viele Generationen zuvor auch immer diese stattgefunden haben mag. Eine durchaus passende, wenngleich nicht sonderliche erfreuliche Reaktion der Kritik mithin, erzählt der 1984 in Sri Lanka geborene Varatharajah doch immer wieder auch von ebenjenen Ausgrenzungserfahrungen, die einen Menschen kaum aus den Randbereichen der Gesellschaft hinauskommen lassen.
Womöglich allerdings führt auch der von Varatharajah gewählte Rahmen, das Quasselplapperforum Facebook, dazu, dass die oftmals ins Lyrische strebende Sprache des Romans zunächst verwundert. Wer sich aber auf diese Setzung einlässt, der merkt bald, dass das soziale Medium nur der Raum ist, den der Autor benötigt, um darin eine Art existentieller Versuchsanordnung zu installieren, die unbedingt eine rein sprachliche verbleiben will und deshalb unmittelbar körperliche Begegnungen vermeiden muss.
Wie bekommt man einen Zugang zu den eigenen Erinnerungen, und wie kann es auf diese Weise gelingen, Stück für Stück die eigene Identität zu ergründen und dabei gleichsam zu begründen? Eine Herausforderung, die besonders schwierig wird, wenn Fluchterfahrung einen Teil der Kindheit weggerissen hat. Einmal, so berichtet Valmira, die Studentin aus Varatharajahs Roman, sei ihr in der Schule aufgegeben worden, ein Babyfoto von sich mitzubringen. Ein Leichtes für den Rest der Klasse, eine Unmöglichkeit für sie. "Unter jedem Foto stand das Datum ihrer Geburt, ihr Name und ihr Gewicht", erzählt Valmira über ihre Mitschüler. "Kosovo je Srbija, Kosovo sei Serbien, schrieb die Miliz auf das, was von unserem Haus übrig blieb."
Dass diese Valmira Surroi von Senthil Vasuthevan auf Facebook angeschrieben wird, verdankt sich einem Zufall, womöglich einer Verwechslung, der vagen Ahnung, dass sie einander kennen könnten, was sich bald als unmöglich erweist, obgleich einige Lebensstationen sich überkreuzen, genauso, wie die Initialen ihrer Namen es tun. Je mehr sie einander mitteilen während der folgenden sieben Tage, die nicht zufällig den Tagen der Genesis entsprechen mögen, desto deutlicher wird, dass diese beiden jungen Menschen nicht das Spiegelbild des jeweils anderen abgeben. Dennoch aber wird im Schreiben an den anderen etwas zurückgeworfen, reflektiert, durch das jeder der beiden ein weiteres Detail von sich selbst erkennen kann. Einmal scheint Senthil sich zu bremsen: "ich würde mich in details verlieren", heißt es da, "an ihnen würde ich mich aufhalten; in ihnen halten wir uns auf." Oftmals sind es nahezu poetisch-philosophische Aphorismen oder Sentenzen, in denen sich der philosophisch-theologische Hintergrund Varatharajahs zeigt.
Die Nachrichten, die er und Valmira schreiben, muten nur passagenweise wie ein Gespräch an, in dem Fragen oder Nachfragen gestellt werden. Vielmehr stoßen die Episoden, die preisgegeben werden, wechselseitig einen Akt des emanzipatorischen Erinnerns an: den Willen, gesehen zu werden, wohingegen in ihrer Kindheit das Gefühl der Scham und des Sich-verstecken-Wollens, mitunter auch Angst vor dem Verschwinden, stets wiederkehrte.
"die gegenstände, die wir berühren, berühren uns zurück, an stellen, an denen wir taub für sie sind. die dinge, die wir sehen, sehen zurück, an stellen, an denen wir blind für sie sind", so erklärt Senthil das Prinzip des wechselseitigen Schreibens, "ich habe ins leere geschrieben. und du schreibst zurück, an stellen, an denen ich blind und taub für dich bin." Zum Sprechen gebracht werden auf diese Weise - wie es mit Blick auf die kunstwissenschaftliche Magisterarbeit Valmiras heißen könnte - die Schattenstellen der beiden Biographien.
Das Sprechenlernen ist der zentrale Aspekt, so wie er es schon immer gewesen ist, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Die Geschichte der Migration beginnt als eine des Verstummens. Drei Monate, so haben es ihr die Eltern erzählt, habe Valmira nach der Flucht nicht gesprochen. Bei Senthil wiederum ist es der Verlust seiner ursprünglichen Sprache, des Tamil, der ihm immer wieder das Entwurzeltsein vor Augen führt, obgleich oder gerade weil er doch mit der neuen, der deutschen Sprache so differenziert umzugehen vermag.
Varatharajah hat mit "Vor der Zunahme der Zeichen" eine dichte, mit feinsten Motivverknüpfungen und -variationen arbeitende Sensibilisierungsgeschichte geschrieben, in der auch die vermeintlich nebensächlichen Details von Migrationserfahrungen als wesentliche nachvollziehbar werden. Zugleich ist dieser Roman Ausweis der Möglichkeit einer intellektuellen und ästhetischen Identitätsstiftung, die natürlich nicht alle Verlusterfahrungen wettmachen kann, aber dabei hilft, sie benennen zu können.
WIEBKE POROMBKA
Senthuran Varatharajah: "Vor der Zunahme der Zeichen". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 256 S., geb., 19,99 [Euro].
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