1970er-Jahren die damaligen Kinderbuchstars Jan und Julia mit ihren Eltern über die Alpen an die Adria fuhren, wo sie unverzüglich neue Freunde fanden, sodass Mutter und Vater den Rest des Urlaubs unbesorgt auf Liegestühlen lümmeln konnten. Und so ist es heute erst recht, Auto und Flugzeug sind längst als Klimakiller enttarnt. Das Problem ist nur: Bahnfahrten dürfen nicht zu lang werden. Sonst droht schlechte Laune bei allen Beteiligten. Die hundertste Kuh ist irgendwann keine Sensation mehr. Und auch an den Regenschlieren am Fenster, die der Fahrtwind in faszinierende Schräglage und unberechenbare Zusammenflüsse bringt, hat man sich bald sattgesehen. "Können wir eine Pause machen, so wie im Auto?" "Geht leider nicht, mein Kind, der Lokführer muss den Fahrplan einhalten." "Wann sind wir endlich da?" "Bald." "Wollen wir wieder Skip-Bo spielen?" "Bitte nicht schon wieder!"
Glücklicherweise rollen seit einiger Zeit wieder Nachtzüge durch Deutschland - gute, alte Schlafwagen, in denen einst auch Jan und Julia mit ihren Eltern lagen, geborgen im eigenen Abteil. Umweltfreundlicher und romantischer geht es nicht, sollte man meinen, und auch nicht effizienter: Schließlich kommt man nicht nur ausgeschlafen am Zielort an, sondern hat zugleich auch noch die erste Hotelübernachtung gespart. Betrieben werden diese Anreise-Wunderwerke allerdings nicht mehr von der Deutschen Bahn, sondern von den ÖBB, den Österreichischen Bundesbahnen. Macht überhaupt nichts, dachten wir, als wir ein Familienabteil im ÖBB-Nightjet von Berlin nach Zürich buchten. Endlich kein Gequengel mehr, stattdessen eine friedlich vereinte Familie im romantisch ratternden Schienenschlaf. Und am Morgen bringt der Schaffner Kaffee, Kakao und frische Brötchen.
Die Fahrt entpuppte sich als mittlere Katastrophe, was zunächst daran lag, dass sich in unserem überhitzten Abteil weder die Heizung abdrehen noch das Fenster öffnen ließ. Dass im Nachbarabteil ein allein reisender Mann mit sonorem Bass stundenlang in sein Handy sprach, trug bei den nur zwei Zentimeter dünnen Wänden ebenfalls nicht zum Wohlbefinden bei. Am schlimmsten aber waren die vielen Halts. Am Tag dauert die schnellste Verbindung von Berlin nach Zürich gut acht Stunden. Der Nightjet dehnt die Fahrtzeit planmäßig auf zwölf Stunden aus: Abfahrt 21:04 Uhr, Ankunft 09:05 Uhr. Das hört sich ziemlich attraktiv und ausgeschlafen an, bedeutet aber, dass der Zug immer wieder auf offener Strecke hält oder quälend langsam fährt - vermutlich, um Güterzüge vorzulassen, den eigentlichen Herren der nächtlichen Gleise. Gegen sechs Uhr am Morgen passierten wir völlig gerädert die Schweizer Grenze. Die Kinder indes waren bester Laune und wollten Skip-Bo spielen.
Irgendwie haben wir alle es ein bisschen verlernt, das klassische Schlafwagenreisen, dessen monotones Dauergeratter uns einst in himmlischen Schlaf wiegte und uns zugleich froh darüber werden ließ, sicher und wohlbehalten durch stockfinstere Nacht gebracht worden zu sein. In Russland jedenfalls wird sie noch gelehrt, die klassische Demut. Gut eine Woche dauert die Fahrt von Moskau nach Wladiwostok mit der Transsibirischen Eisenbahn. Ohne gegenseitige Rücksichtnahme läuft gar nichts auf den 9288 Kilometern, wie das Buch der Autorin Alexandra Litwina und Illustratorin Anna Desnitskaya im Gerstenberg-Verlag (unser Bild) zeigt.
CHRISTOPH MOESKES.
Literatur Alexandra Litwina (Text) und Anna Desnitskaya (Illustrationen): "Von Moskau nach Wladiwostok", Gerstenberg, 26 Euro.
Nachtzüge Die Nightjets der ÖBB fahren auf verschiedenen Linien von deutschen Städten nach Österreich, Italien, die Niederlande und in die Schweiz. Mehr unter nightjet.com. Auch die französische Bahngesellschaft SNCF bietet ab Dezember wieder zwei Nachtzugverbindung an: Zwischen Paris, München und Wien - und zwischen Zürich, Köln und Amsterdam. Mehr unter sncf.com
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