in seinen ersten Lebensmonaten das komplexe Sehen für sich selbst. Hoffman demonstriert an zahlreichen Zeichnungen, daß uns unser Gehirn mit vorgefertigten Bildern versorgt. Wir sehen auf diesen Darstellungen farbige Linien oder geometrische Formen, wo keine sind. Würden wir diese Bilder mit einem photometrischen Meßgerät abtasten, so wären diese Figuren nicht nachweisbar. Doch wir nehmen sie wahr. Statt mit der exakten Wiedergabe der vorgelegten Bilder versorgt uns das Gehirn mit optischen Täuschungen, die uns etwas vorgaukeln, das wir gewohnt sind in ähnlichen Situationen zu sehen, das aber auf der betreffenden Abbildung gar nicht dargestellt ist. Dieses Wahrnehmen von vorfabrizierten Eindrücken hat den praktischen Vorteil, daß wir nicht die Speicherkapazität einer Datenverarbeitungsanlage brauchen. Wir speichern nicht jeden Bildpunkt ab, sondern setzen das erinnerte Bild aus einem Vorrat von Bausteinen unter Anwendung von so einfachen wie sinnvollen Grundregeln zusammen.
Die einzelnen Teilprozesse des Sehens sind bestimmten spezialisierten Gehirnbereichen zugeordnet, was man bei Schlaganfallpatienten beobachten kann, die durch ihre Krankheit die Funktionsfähigkeit einzelner Hirnregionen eingebüßt haben. Solche Menschen können bei ansonsten normaler cerebraler Funktionsfähigkeit keine Gesichter mehr erkennen oder vermögen in spezifischen Bereichen des Gesichtsfeldes keine Farben mehr wahrzunehmen. Hoffman gibt uns einen Eindruck davon, wie weit die Forschung bereits die visuellen Funktionen im Gehirn lokalisieren konnte.
Die Forscher haben die Anlage zu einzelnen visuellen Fähigkeiten bereits bestimmten Abschnitten des Erbmaterials zuordnen können. So hat man schon vor längerer Zeit die Gene für die Pigmente L und M, die für das Farbsehen notwendig sind, auf dem X-Chromosom nachgewiesen. Da Frauen zwei X-Chromosomen besitzen, Männer aber nur eines, ist Farbenblindheit geschlechtsspezifisch. Unlängst wurde festgestellt, daß es zwei Spielarten des Gens für das L-Pigment gibt, die zwei Versionen des L-Pigments herstellen, die sich durch die Lichtwellenlänge ihrer höchsten Empfindlichkeit unterscheiden. Das hat zur Folge, daß Menschen mit unterschiedlichen Genen für das L-Pigment unterschiedliche Farben konstruieren und somit in unterschiedlichen phänomenalen Welten leben.
Die Welt, die wir wahrnehmen, ist ein Konstrukt unserer Gehirne und wird zudem durch die Individualität unserer Wahrnehmungsorgane beeinflußt. Wir können uns daher nicht festlegen, wie die Welt tatsächlich aufgebaut ist. Die Bilder, die wir uns machen, sind einfach nur nützlich, denn sie haben sich im Laufe der Evolution bewährt. Mit den Eindrücken, die uns das Gehirn vermittelt, können wir in unserer relationalen Umwelt erfolgreich agieren. Tatsächlich geht es uns ähnlich wie einem Computerbenutzer, der auf seinem Bildschirm das Bild eines Dokumentes auf das Bild eines Papierkorbes bewegt und mit dieser Aktion einen Teil des Datenspeichers löscht. Der User braucht den Aufbau seines Arbeitsgerätes nicht zu kennen. Für ihn ist es unwichtig, aus welchen Schaltkreisen und Programmen sich "Dokument" und "Papierkorb" zusammensetzen. Für den Erfolg seiner Arbeit genügt es vollkommen, mit den Icons zu hantieren, die mit dem tatsächlichen Inhalt seines Rechnergehäuses überhaupt keine Ähnlichkeit besitzen müssen.
Unser phänomenaler Bereich unterscheidet sich von unserem relationalen Bereich so weit, wie die Bilder auf dem Bildschirm sich von den Vorgängen im Computer unterscheiden. Ein Computer wird von bewußten Wesen so konstruiert, daß wir ihn mit Hilfe von einfachen Bildern erfolgreich benutzen können. Ob unsere relationale Welt Elemente von Bewußtsein enthält, bleibt auch nach den Erkenntnissen der Wahrnehmungsforschung offen. Schau'n wir mal!
Donald D. Hoffman: "Visuelle Intelligenz". Wie die Welt im Kopf entsteht. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000. 336 S., Abb., geb., 48,- DM.
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