soll Urteilskraft haben', und die böse Fee hat unterbrochen und den Satz beschlossen, ,und sonst nichts'" - die Äußerung hat man auf seine Schreibschwierigkeiten bezogen. Aber wer ihn kannte, war von seiner Intelligenz eingenommen, er muss im Gespräch tiefen Eindruck gemacht haben.
Und wie es zu einem Mythos im geläufigen Sinne gehört, liegt um Blücher der Rumor der Größe. Hannah Arendt hat ihm die "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" gewidmet und in der Danksagung der Originalausgabe von 1951 bekannt, das Buch hätte kaum geschrieben werden können ohne "die unveröffentlichte politische Philosophie" des Widmungsträgers. Aber was war das für eine Philosophie? Und was für ein Mann? Die beiden lernten sich 1936 in Paris kennen, es ist der Beginn einer großen Liebesgeschichte. Er, 1899 geboren, war in Armut aufgewachsen, der Vater, Arbeiter, vor der Geburt seines Sohnes ums Leben gekommen. In den zwanziger Jahren schloss Blücher sich der KPD an, wo er allerdings wohl bald an den Rand geriet. Sichere Kenntnis haben wir nicht, für vieles stehen nur die eigenen Äußerungen in Lebensläufen und dergleichen zu Verfügung. 1933 emigrierte er zunächst nach Prag, dann nach Paris, 1940 gelangte das Ehepaar Arendt-Blücher nach New York.
Von der intellektuellen Bedeutung Blüchers zeugt nicht nur Hannah Arendts Danksagung. Karl Jaspers bezeichnete ihn als Sokrates und Arendt als dessen Platon; Monika Plessner bezeugt, dass die Wendung vom "Sokrates" Blücher in der Umgebung des Paares ganz geläufig war - und das sei "mehr als ein gutmütiger Scherz" gewesen. Nun ist ein Band mit zwei Texten Blüchers erschienen, der neues Licht auf diese mythisch-nebelhafte Figur wirft.
Der erste Aufsatz, "Perpetuum mobile. Staat und Armee des Faschismus", ist vermutlich 1943 verfasst, aber nie publiziert worden. Blücher weist hier noch den Totalitarismus-Begriff zurück und spricht vom Faschismus, das wird ein Überbleibsel seiner kommunistischen Zeit sein. Auffällig ist die Wissenschaftsskepsis. In der Wissenschaft sieht Blücher die Verführung zu einem Leben in der "Indifferenz gegen Gut und Böse". Im zweiten Text, dem schon erwähnten "Nationalsozialismus und Neonationalismus" von 1949, setzt er sich von der "Kulturkritik" ab, womit er Geschichte und Geistesgeschichte meint. Diese Disziplinen neigten zur Formulierung von "Geschichtsverläufen und deren Gesetzmäßigkeiten", so aber entstehe politische Resignation. Das ist die Haltung eines Mannes, der, anders als seine Frau, der akademischen Welt fernstand, dafür den politischen Kampf kennengelernt hatte.
Doch interessanter als die Differenzen sind die Gemeinsamkeiten. Blücher wie Arendt betrachten die Totalitarismen als Erscheinungen der Moderne. Schon der Aufsatz von 1943 sieht den Verfall des Nationalstaats als Aufstiegsbedingung des Nationalsozialismus. Wie später Arendt den Nationalsozialismus nicht als Steigerung des Nationalstaats, sondern als dessen Umkehrung deutet, so vermerkt Blücher, der Nationalsozialismus sei ",rassisch'-supranational" gewesen. Und auch ein anderes Moment, für Arendt besonders wichtig, die Suspendierung der Wahrheitsfrage im Totalitarismus, hat Blücher 1943 im Blick: "Die positive Negativität, die Fähigkeit der Lüge, sich genau der Punkte zu bemächtigen, deren die Wahrheit noch nicht Herr geworden ist", sei Kennzeichen der Instinktsicherheit des Faschismus.
Das soll nicht heißen, dass diese Motive in Arendts Totalitarismus-Buch das geistige Eigentum ihres Mannes gewesen wären. Aber einen Eindruck von der intellektuellen Gemeinsamkeit des Paares bekommt man doch. Dass Hannah Arendt die weit bessere Autorin ist, bleibt richtig, sie entwickelt ihre Analysen aus der Wirklichkeitswahrnehmung, wo ihr Mann ganz thetisch und trocken bleibt. Aber das gilt für die schriftlichen Äußerungen. Ein Sokrates "im mündlichen Denken" mag er doch gewesen sein. Das Nachwort begegnet diesem Vergleich mit Skepsis. Aber wer ihn damals gebrauchte, tat es spielerisch und wusste, dass das Verhältnis des historischen Sokrates und der Figur in Platons Dialogen rätselhaft ist.
STEPHAN SPEICHER
Heinrich Blücher:
"Versuche über den
Nationalsozialismus".
Hrsg. von R. Rösener, Nachwort von R. Rösener und E.-M. Wendt. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 173 S., geb., 24,- [Euro].
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