früher als Sinn a priori bezeichnet wird, in ein Bündel von Präsumtionsregeln auseinanderlegt und einen formalen Aufriß des Sprachverstehens gibt, durchmustert er erst einmal den reichen Fundus von verstehenstheoretischen und interpretationstheoretischen Einsichten und Ansichten, der sich in der Geschichte der Philosophie und der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen bis heute angesammelt hat.
Dabei ist natürlich Eile geboten, denn die Anfänge hermeneutischer Reflexion reichen bis zu Aristoteles' "De interpretatione" und gar noch weiter zurück: Bereits Ende des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts soll nach einem Bericht des Neuplatonikers Porphyrios Theagenes von Rhegion ein Homerbuch verfaßt und sich darin über allegorisierende Deutungsverfahren Gedanken gemacht haben. Scholz läßt daher die Geschichte der Hermeneutik im Schnelldurchlauf vorbeiziehen; viele Bekannte aus anderen Geschichten der Verstehenslehre tauchen dabei auf - Augustinus und Abaelard, Dannhauer, Clauberg, Wolff und Meier, Bolzano, Schleiermacher und Dilthey, jeder mit einem lexikonartigen Kurzeintrag bedacht. Von den Positionen der zeitgenössischen analytischen Philosophie interessieren den Verfasser hauptsächlich die unterschiedlichen Versionen des "principle of charity" bei Wilson, Quine und Davidson und überraschenderweise die pseudotranszendentalphilosophische Dennett'sche Theorie des "intentional stance".
Man mag in Scholz' Galerie hermeneutikerheblicher Philosophen Heidegger vermissen. Doch hat dessen Abwesenheit einen guten Grund. Daß wir verstehende Wesen sind, gibt Scholz gern zu; aber er macht davon kein existentialanalytisches Aufhebens. Wir streben nach Verstehen, oft verstehen wir auch, oft aber auch nicht, und häufig werden wir Opfer von Mißverständnissen. Für Scholz ist Hermeneutik eine Disziplin der theoretischen Philosophie, eng verbunden mit Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie und dem, was man als Philosophie des Geistes zu bezeichnen sich irrigerweise angewöhnt hat. Daher wird die Frage: Wie ist Verstehen möglich? keinesfalls fundamentalontologisch, auch nicht transzendentalphilosophisch, sondern ausschließlich analytisch beantwortet.
Wenn wir, wie Heidegger meint, aus der Sprache sprechen, Sprache aus uns spricht, büßt Sprache ihre kognitive Eigenständigkeit ein. Den auf intersubjektive Überprüfbarkeit gerichteten Wahrheitsanspruch verdunkelt ein sprachliches Wahrheitsgeschehen, das sich rationaler Verständigungskontrolle entzieht. Verwundert hört der Sprechende, was da aus dem Haus des Seins zu ihm spricht. Bei Scholz tritt an die Stelle von Dasein und transzendentalem Subjekt das empirische Präsumtionssubjekt, das durch ein Bündel von Rationalitätsunterstellungen und Nachsichtsprinzipien eine intersubjektive Verstehensszenerie konstituiert, auf der theoretische und praktische Verständigungsprozesse ablaufen.
Die prima hermeneutica Heideggers und Gadamers, die Verstehen als ursprünglichen Seinscharakter des menschlichen Lebens selbst faßt, der allem verstehenden Verhalten der Subjektivität vorausliegt, auch dem methodischen der Wissenschaften, ihren Normen und Regeln, ist Scholz' Sache nicht. Er knüpft an die historisch frühe Hermeneutik an und will deren interpretationstheoretische Bemühungen mit dem feineren Besteck der zeitgenössischen analytischen Philosophie fortsetzen. Heideggers Faktizitätshermeneutik und Gadamers philosophische Hermeneutik sind für ihn eher Abweichungen von einem Erkenntnisprojekt, das allen daseins- und sprachontologischen Fundamentalismus gut entbehren kann und in letzter Konsequenz in die entgegengesetzte Richtung führt: nicht zurück ins Unvordenkliche, sondern vorwärts in die Ausdifferenzierung von Spezialhermeneutiken, in denen die Regeln der Verstehenspraxis der einzelnen Verstehensregionen aufgeführt werden. Nicht Wahrheit also, sondern Methode.
Da aber diese zukünftigen Spezialhermeneutiken von einem allgemeinen Verstehensbegriff abstammen und sich auf ein allgemeines Regelwerk der Interpretation stützen, gibt es auch eine allgemeine Hermeneutik. Wie sieht nun dieses Prinzipiengerüst des Verstehens und Interpretierens näher aus? Welchen entscheidenden Schritt vermögen wir dank der inzwischen angesammelten empirischen Erkenntnis und unserer verfeinerten begrifflichen Analyseinstrumente über die schon immer bekannten Faustregeln des verständigen Umgangs mit Texten und den hochbewährten Rezepten des verständigen Umgangs mit Menschen hinausgehen? Scholz muß zugeben, daß der Fortschritt in der Sache eher unerheblich ist; nur auf dem Gebiet der Formulierung läßt sich durch größere Genauigkeit, Lesartensortierung und Binnendifferenzierung Erkenntnisgewinn erzielen. Wir wissen jetzt präziser, daß wir unsere Verstehensprozesse grundsätzlich in normative Unterstellungen einbetten, die nach Verstehensart und Verstehensobjekt variieren und eine normgerechte Erfülltheit von theoretischen und praktischen Rationalitätsstandards präsumieren. Ob man nun diese Prinzipien Vortrefflichkeitsunterstellungen, Prinzipien der hermeneutischen Billigkeit oder Prinzipien der Nachsicht nennt, ist Temperamentssache.
Aber nie verdichtet sich diese begründungstheoretische Kontextualisierung der Präsumtionsregeln und Interpretationsprinzipien zu einer philosophischen Hintergrundtheorie. Scholz' allgemeine Hermeneutik verfolgt ein philosophisch diätetisches Programm. Klar wie Selters, staubtrocken wie Knäckebrot. Kein daseinsontologisches Prassen, keine transzendentalphilosophische Völlerei; nur sprachanalytische Kalorienzählerei. Kennzeichnend die Wahl des Hauptbegriffs: Präsumtion. Präsumtion ist ein terminologisches Findelkind, das keinerlei Hinweis auf irgendeine ehrwürdige philosophische Abstammung an sich trägt und alle Fragen offen läßt. Das, was von diesen Präsumtionen allenfalls gesagt werden kann, ist das, was offenbar ist: daß sie konstitutiv für die Praxis unserer Verständigung und Selbstverständigung sind und die grammatische Verklammerung von satz- und handlungsbezogenem Sinnverstehen und rationalitäts- und verantwortlichkeitszuschreibendem Selbstverstehen tragen.
Begegnet dem Leser im ersten Teil immerhin noch ein hermeneutikgeschichtlicher Zettelkasten mit manch interessanten Eintragungen, so ermattet seine Aufmerksamkeit in den folgenden Teilen fortschreitend. Nicht, weil er wie Garve vor der "Kritik der reinen Vernunft" stände und seine Geisteskräfte in immer neuen Verstehensanläufen verbrauchen müßte, sondern weil ihm die Lektüre langweilig wird. Der bevorzugte Gegenstand philosophischer Reflexion ist das Selbstverständliche; und gerade Hermeneutik hat es mit der Aufklärung des Selbstverständlichen zu tun, ist darum immer transzendental ausgerichtet, dem auf der Spur, was wir immer schon tun, wenn wir dieses tun oder jenes tun. Und wenn sich die Daseinsanalytik Heideggers der Erhellung des Selbstverständlichen widmet, entsteht Aufregung, kommt auch Ärger auf. Scholz' Umgang mit dem Selbstverständlichen setzt keine anregenden Wirkungen frei. Viel uneleganter Formalismus und Präzisionstrivialismus trüben die Leselust. Irgendwann kann man das Buch dann endlich aufstöhnend beiseite legen: Wir haben verstanden.
WOLFGANG KERSTING
Oliver R. Scholz: "Verstehen und Rationalität". Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie. Philosophische Abhandlungen, Band 76. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 1999. 357 S., geb., 88,- DM.
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