politischer Abrechnung, aber es ist vieles mehr: Ein 600 Seiten dicker Schmöker, den, wer sich in die Lektüre vertieft, ungern aus der Hand legt, ein philosophisches Brevier, ein Bildungs- und Entwicklungsroman, dessen Autor aus eigenen und fremden Fehlern nichts dazulernt, sich treu bleibt und sich dennoch verändert. So besehen, ist dieses Tagebuch ehrlicher als autobiographische Erzählungen, deren Verfasser behaupten, sich aus Nacht zum Licht emporgearbeitet und dabei tiefgründige Erfahrungen gemacht zu haben: "Angstvoll sah er in den Spiegel. War er schon wer? Hatte sich schon etwas gebildet, verfestigt?", merkt Wagner an.
Die hier verkürzt zitierte, an Kleist erinnernde Anekdote hat das Leben geschrieben - nicht das Leben an sich, sondern das im "real existierenden" Sozialismus, der stets aufs Neue Stoff für Witze lieferte: "Als es an die Treppentür donnerte, dachte ich, die Russen aus dem Tbc-Heim wollten die Herausgabe der Schnapsvorräte des Konsumladens erzwingen, weil sie mich für den Geschäftsführer hielten. Aber diesmal war es ein in der LPG arbeitender Pole, der mir atemlos 'Einkuhkalbt' entgegenrief (und) mich mit dem im Mühlenweg wohnenden Tierarzt verwechselte."
Bernd Wagner ist ein passionierter Fußgänger, der von Sachsen bis Südkorea weite Strecken durchwanderte, und seine Sturheit hat ihn in gefährliche Nähe zu Querdenkern am rechten Rand des Meinungsspektrums geführt. Doch anders als diese ist er frei von DDR-Nostalgie und weint dem Mauerstaat keine Träne nach, wohl aber dem Prenzlauer Berg, wo er, aufgewachsen zwischen Agitprop und sozialistischem Biedermeier, den Aufstand probte in einer mehr dadaistischen als anarchistischen Jugendrevolte. Zusammen mit Uwe Kolbe gab Wagner dort die Zeitschrift "Mikado" heraus, die ursprünglich "Der Kaiser ist nackt" hieß, ein ohne offizielle Genehmigung in Handarbeit hergestelltes Literaturmagazin, heute begehrtes Sammelobjekt.
Wagners Tagebuch bestätigt, was für viele DDR-Flüchtlinge und Dissidenten gilt: Dem genauen Hinsehen auf die Zumutungen und Ärgernisse des Obrigkeitsstaats widerspricht ein grobkörnig-plakatives Bild der Bundesrepublik, die als Klassengesellschaft und Herrschaft des Geldes erscheint, so als hätten selbst DDR-Kritiker die Propagandaklischees verinnerlicht. Das Verständnis für das Funktionieren einer pluralistischen Demokratie, für Konsens und Kompromiss streitender Parteien und Ideologien hingegen ist notorisch unterentwickelt.
Dafür ein Beispiel: "Besonders beeindruckten mich die rhetorischen Fähigkeiten meiner Standesgenossen. Zwanzig Minuten konnten sie am Stück reden, ohne dass sie etwas Substanzielles sagten. Schließlich begriff ich, dass es darum auch gar nicht ging. Es handelte sich mehr um einen Literaturmarkt als um eine wirkliche Debatte." So kommentiert Wagner das Autorentreffen "Tunnel über der Spree", auf dem Westberliner Schriftsteller sich 1985 mit aus der DDR vertriebenen Kollegen solidarisierten - hier stimmt das oft missbrauchte Wort. Das war keineswegs selbstverständlich: Nicht bloß Hermann Kant, eine Mehrheit im westdeutschen PEN und VS weigerte sich, die Ausgebürgerten zu unterstützen, da dies, wie heute in Sachen Ukraine, Frieden und Entspannung gefährde. Wagners Schlussfolgerung, "dass diese Literatur in ihrer Gesamtheit keine Identität mehr hat, seit die altmodisch-moralische mit Böll ausgestorben ist", war falsch: Es ging um Politik, nicht um Literatur, und nicht nur Böll und Grass hatten sich mit den DDR-Dissidenten solidarisiert.
Was trotz dieser Einwände mit Wagners Buch versöhnt, ist die Einsicht, dass Mauern im Kopf schwerer einzuebnen sind als solche aus Stein, sowie dessen literarische Qualität, die sich in Aphorismen äußert wie: "Irgendwann wird alles zu Leipzig." HANS CHRISTOPH BUCH
Bernd Wagner:
"Verlassene Werke
1976 -1985".
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2022.
605 S., geb., 26,- Euro.
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