zweiten Roman in französischer Sprache eine moderne Adaption des Klassikers.
Kein bescheidenes Unterfangen, aber immerhin wurde der 1962 in Kabul geborene Autor und Filmemacher für sein französisches Debüt, den Roman "Stein der Geduld", 2008 mit dem Prix Goncourt geehrt und auch seine zuvor aus dem Persischen übersetzten Bücher "Erde und Asche" und "Der Krieg und die Liebe" wurden gelobt.
Nun also die Sache mit Raskolnikow, der hier Rassul heißt und in Kabul mehr schlecht als recht dahinvegetiert. Überhaupt hält sich der seit 1984 in Frankreich lebende Autor ziemlich genau an die kriminalistisch-psychologisierende Grundstruktur des großen Russen, auch das Personal ist einigermaßen bekannt. Die düsteren Hinterhöfe und Stiegen des raubkapitalistischen Petersburg wurden eingetauscht gegen die elenden Kammern und verrauchten Opiumcafés Kabuls in den neunziger Jahren, als nach dem Abzug der geschlagenen Sowjets die Mudschahedin um die Macht kämpften. Die Stadt versinkt im Chaos, ihre Bewohner im Elend, da braucht es nicht erst Dostojewski, um alles zu verfluchen. Warum aber wird, so der Titel, Dostojewski verflucht?
Der afghanische Nachfahre Raskolnikows ist wie sein literarischer Verwandter ein mittelloser Student, gesegnet und eben auch verflucht mit ein paar Semestern Russlanderfahrung. Er plant den Raubmord an der Wucherin Nana Alia, um mit der Beute seine Familie, Mutter und Schwester, über Wasser zu halten und seine Verlobte Suphia aus den Krallen der alten Hexe, die auch Zuhälterin ist, zu befreien. Die hochtrabende Napoleon-Idee vom Übermenschen, der die Welt befreit und die Laus tötet, liegt ihm ziemlich fern. Doch in der Gemengelage des Mordes kommen Zweifel auf, dunkel erinnert er sich an den Roman und verlässt den Ort des Verbrechens überstürzt, verwirrt und ohne die Beute, die mitsamt der Leiche verschwindet. Allein mit seinem Gewissen, verfolgt er eine Frau in blauer Burka, bei der er Beute und Zeugenschaft vermutet, und will sich, nachdem Suphia ihn drängt, der Justiz stellen. So bekannt, so gut. Allein die Justiz existiert nicht mehr in diesem bizarren Absurdistan, ihr letzter Vertreter, ein alter Gerichtsschreiber, hat anderes zu tun und sucht ganz anders als Dostojewskis Detektiv dem Studenten klarzumachen, dass sich in Kabul niemand für sein Verbrechen interessieren wird. In einem Land, in dem Mord und Totschlag an der Tagesordnung sind, ist das Erschlagen einer Wucherin, einer Frau noch dazu, eine Bagatelle. Sich zu stellen grenze an Schwachsinn.
Verhaftet wird der afghanische Raskolnikow dennoch, aber nicht seines Verbrechens wegen, sondern weil er russische Bücher, vermeintliche Feindpropaganda liest, auch den verfluchten Dostojewski, und sein Vater, der fern von Kabul ermordet wird, Kommunist war. Sippe, Stamm, Blutsbande - darüber wird ein kafkaeskes Gericht gehalten. Und natürlich trifft der Held auch auf eine afghanische Ausgabe des mephistophelischen Swidrigailow, hier ist es ein Mudschahedin-Kommandeur, ein liebenswürdiger Massenmörder. Zum Schluss gibt es dann doch noch eine Leiche und ein - wie bei Dostojewski - etwas ephemeres Happy End.
Erzählt wird dies alles aus der fieberumnachteten Perspektive Rassuls, in die sich zuweilen ein Erzähler einschaltet, eine den Filmemacher ausweisende Montage mit Suggestivkraft. Die groteske, surreale Realität der Wüstung Kabul verschwimmt mit den inneren Monologen des getriebenen Helden, bis man selbst nicht recht weiß, was Dichtung und Wahrheit, Recht und Unrecht ist. Unweigerlich erinnert man sich an die Romane Khaled Hosseinis, des in Amerika lebenden, auf Englisch schreibenden anderen international bekannten afghanischen Autors. Beide Autoren suchten ihre Sujets bisher nur in ihrer einstigen Heimat, aber beide schreiben von ganz anderen literarischen Ufern. Rahimi, Psychologe und Philosoph, führt uns in Bildern aus einem geschundenen, zerrissenen Land vor Augen, was geschieht, wenn wir meinen, alles sei erlaubt, wenn wir den "Propheten" mit Säbeln und noch schärferen Worten blind folgen, wenn wir glauben, nicht aus Fleisch und Blut, sondern Abgötter aus Erz zu sein. Sein Afghanistan ist überall.
SABINE BERKING
Atiq Rahimi: "Verflucht sei Dostojewski". Roman.
Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 290 S., geb., 19,99 [Euro].
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