von bürgerlichen Tugenden für eine "lebende Verfassung" des neuen demokratischen Gemeinwesens, das durch den Riss zwischen Staat und Nation gekennzeichnet war. Sternberger gebrauchte den Begriff "Verfassungspatriotismus" erstmals 1970 in einem Beitrag für diese Zeitung und führte ihn 1979 ebenda in einem Artikel mit dem gleichnamigen Titel zum dreißigsten Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland aus.
Kritisch vermerkt Müller, dass der Sternberger'sche Verfassungspatriotismus "keinen Deut an der ethnisch fundierten Konzeption deutscher Staatsbürgerschaft" geändert habe. Anders Jürgen Habermas. Er popularisierte in den achtziger Jahren den Begriff und setzte ihn gegen vermeintliche Versuche der Restauration eines "normalen" deutschen Nationalbewusstseins als "einzigen Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet" - durch die Bindung an "universalistische Verfassungsprinzipien", gründend auf der geistigen und ethischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Letztlich breitet das Buch die Ideen von Jürgen Habermas aus. Die Identität eines Landes soll sich in der Aneignung von Demokratie und Menschenrechten auf je eigene Weise vor dem Hintergrund seiner jeweiligen Geschichte und Kultur ergeben. Damit sind auch die "kommunikativen Praktiken" der Selbstverständigung, also die Habermas'sche Diskurstheorie, angesprochen.
Das zweite Kapitel versucht den Verfassungspatriotismus theoretisch umfassend zu verorten - einmal in der Abgrenzung zum "liberalen Nationalismus", einem Begriff aus der amerikanischen Debatte, der mit dem deutschen Konzept der nationalen Leitkultur gleichgesetzt wird; zum anderen in der Zurückweisung aller möglichen Einwände, dass der Verfassungspatriotismus zu abstrakt, zu partikularistisch oder verrechtlichend sei. Die Argumentation erweckt hier nicht selten den Eindruck des Spitzfindigen.
Im dritten Teil wendet der Verfasser den Verfassungspatriotismus als Instrument der innerstaatlichen und supranationalen Integration an. In den einzelstaatlichen Debatten sieht er eine "Konvergenz hin zu allgemein akzeptierten Zielen und Integrationsinstrumenten" zugunsten eines "sich immer wieder diskursiv erneuernden Verfassungspatriotismus". Es leuchtet ein, dass allein der Verfassungspatriotismus für das kulturell heterogene Europa identitätsbildend sein kann. Denkbar sei für die EU "eine Art rational-emotionaler Arbeitsteilung zwischen einem nationalstaatlich eingerahmten, emotional dichteren Bewusstsein und einem übergreifenden Verfassungspatriotismus, der sich auf die spezifischen Prinzipien und Praktiken der Union als liberales Projekt bezieht".
Das Buch ist nicht einfach zu lesen. Es ist aus Passagen unterschiedlicher Aufsätze und Bücher zusammengefügt, was zu einer gewissen Redundanz führt. Zudem leidet der "Essay" an einer unpräzisen Klärung deutscher und amerikanischer Begrifflichkeit. Wenn man von Habermas absieht, setzt Müller sich im Wesentlichen mit der amerikanischen Literatur auseinander. Die deutsche Diskussion über Republik und Verfassungspatriotismus in Abgrenzung von einem ethnisch verstandenen Nationbegriff kennt der Verfasser nur partiell. Die von ihm mehrfach angeprangerte Kritik, dass der Verfassungspatriotismus nur ein intellektuelles Konstrukt mit Seminarcharakter sei, kann Müller letztlich selbst nicht ausräumen. Eine Auseinandersetzung mit der empirisch fassbaren Realität der einzelstaatlichen politischen Kulturen wäre für die praktische Relevanz dieser normativen Studie eine notwendige Voraussetzung.
WOLFGANG JÄGER
Jan-Wener Müller: Verfassungspatriotismus. Edition Suhrkamp, Berlin 2010. 155 S., 12,- [Euro].
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