werden seit längerem nicht mehr in Holztäfelchen eingebrannt, sondern von Druckmaschinen auf Zeitungs-, Illustrierten- und Buchpapier gebracht. Das schont den Wald dermaßen, daß ein exponentielles Spruchwachstum wohl zwangsläufig die Folge war.
Über zweitausend Weisheiten sind jetzt in Wolfgang Mieders Buch der "Antizitate" versammelt, auf einer Holzmenge, die früher allein für vier Orlo-Täfelchen verbraucht worden wäre. Es sind Früchte zwanzigjährigen Sammlerfleißes, wie der an der Universität Vermont lehrende Literaturwissenschaftler gesteht. Gesammelt hat er sie, with a little help from his friends, weil er bei der Dokumentierung der "klassischen Zitate im Kontext der Massenmedien" ein Forschungsdefizit sieht. Und klassisches Zitat ist ihm vieles zwischen dem trojanischen Pferd bei Homer und John le Carrés Spion aus der Kälte: die strapazierfähigen Sätze von Goethe, Schiller und Shakespeare sowieso, aber etwa auch die Behauptung von VW, der Käfer laufe ausdauernd. Was daraus gemacht wurde, in Zeitungsüberschriften, Werbesprüchen und von den sich dafür zuständig fühlenden Fachkräften, die in Klein- oder Selbstverlagen sogenannte "Aphorismen" veröffentlichen, das ist in 172 Abteilungen jeweils chronologisch sauber aufgeführt, die Fundstellen penibel vermerkt.
So können wir jetzt wissen, daß nicht nur die (literarische) Katharina Blum ihre Ehre verloren hat, sondern auch, in dieser Reihenfolge, Heinrich Böll, Paul Getty, Michail Gorbatschow und Käthe Wolthemath, dies jedenfalls nach Erkenntnis des "Spiegel", der "Weltwoche" und zweimal der "Zeit". Weitere Ehrverluste haben es bis zur Drucklegung nicht in Mieders Zettelkasten geschafft, sind aber nicht auszuschließen. Wir folgern jedoch, daß Bölls Buchtitel nur wenig von dem Reizstoff enthält, der Aphoristiker, Werbefuzzis, Sprachkünstler, Satiriker magisch anzieht und der in Descartes' "Cogito, ergo sum" offenbar reichlich vorhanden ist, Mieders Spitzennummer mit 148 "Belegen", wie der Professor das nennt.
"Cogitas, ergo Nonsense", lesen wir da, und Geistesblitze dieses Kalibers sonder Zahl. Ein Artist bringt es in einem "Gedicht" flott auf 41 Varianten, die aber nur als eine gezählt werden. "Nicht alle Texte sind besonders geistreich", konzediert der Sammler, und das ist ausgesprochen liberal formuliert, denn sämtliche reizstoffreichen Zitate werden hier - hauptsächlich - von einer notorischen Handvoll Aphoristiker gnadenlos durchgebürstelt und in immer neuen Editionen recycelt. Wobei im Nachweis der Wieder- und Weiterverwertung einmal gedruckten Tiefsinns mit den Hinweisen "Auch in . . .", "und . . ." die Stärke des Buches liegt, denn sie belegen, daß nicht nur die Autoren sich in ihrem nächsten Buch gern selbst zitieren, sondern auch die zuständigen Verlage ein und denselben Gedankenblitz bei stets wechselnder Herausgeberschaft zum Beispiel erst im Band "Bürosprüche" unterbringen, um ihn dann in "Neue Bürosprüche", gefolgt vom "Großen Buch der Bürosprüche" und so weiter neu erstrahlen zu lassen.
Besteht sonst für die Produktwelt das relativ eherne Gesetz, daß ein Nachfolgemodell eine Verbesserung irgendeiner Art enthalten muß, um auf dem Markt zu bestehen, so gilt im Milieu von Mieders Funden offensichtlich das Gegenteil. Dieses Phänomen lädt natürlich zur Hypothesenbildung ein. Wolfgang Mieder hat dieser Versuchung in seiner zehnseitigen Einleitung widerstanden, mahnt lieber, "den klassischen Kanon nicht mit dem Bade hinauszuwerfen", und aphoristelt auch schon mal selbst: "Im Falle eines Falles sagt ein Antizitat wirklich alles." Ein Muß für jeden Masochisten. BURKHARD SCHERER
Gesellschaft für deutsche Sprache (Hrsg.): "Ver-kehrte Worte". Antizitate aus Literatur und Medien. Gesammelt von Wolfgang Mieder. Quelle und Meyer, Wiesbaden 1997. 356 S., br., 28,80 DM.
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