gibt naturgemäß darin eine Landschaft der Unfreiheit zu entdecken und eine innere, noch uneroberte Geographie zu erleben, die sich in Form, Rhythmus und Versmaß der eigenen Doppelnatur des Empfindens annähert.
Tomas Venclova ist 1937 in Memel, dem heutigen Klaipèda, zur Welt gekommen und gilt als der bedeutendste Dichter Litauens. 1977 verließ er die Sowjetunion und ging ins amerikanische Exil, wo er viele Jahre an der Yale University russische Literatur lehrte. Seit einiger Zeit lebt er wieder in Vilnius, dem er ein sehr lesenswertes Buchporträt gewidmet hat, das im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Venclovas Fähigkeit, in seinen Gedichten die Mehrspurigkeit der Welt in genaue Wahrnehmung münden zu lassen, mag mit seinem ureigenen dichterischen Blick zusammenhängen, gewiss aber ist dieser auch von der jahrelangen Überwachung durch den Geheimdienst bestimmt. Denn beide Ebenen des Sehens und Unterwegsseins bringen die unsichtbaren Teile der Wirklichkeit in diesen Gedichten ins Schwingen. Zusammen mit seinem begnadet geduldigen Übersetzer Cornelius Hell hat Venclova für diesen Band eine Auswahl aus zwanzig Jahren Schaffen zusammengestellt. Der Übersetzung gelingt es, die leuchtenden "Splitter" der Geschichte, die für Venclova so wichtig sind, aber auch die der Gegenwart und Zukunft in ein überzeitliches "Diesseits" zu holen: "Splitter, der noch fühlt und leuchtet. / Und dieses Los vielleicht gar nicht verdient hat."
Dieses Jahr feiert Tomas Venclova seinen 85. Geburtstag. Er hat viel gesehen und erlebt, das "Jahrhundert der Wölfe", eine Zeit der Unfreiheit, Verfolgung und Diktatur, hat auch an ihm genagt. In seiner Dichtung weiß er deshalb genau zu zeigen, wie "die Steine klirren", wenn sie "Spielwürfel" werden. Er ist durch die Erfahrungen seines Lebens in der Lage, das Rauschen der Akazien mit einer anderen Tonalität in Verbindung zu bringen, weiß er doch, dass "ein Flügel / unterhält sich auf Latein mit dem Wind". Türme, Bahnhöfe, Amtssitze, er kennt die Möglichkeit ihrer neuen Beschriftung, und so nimmt er nicht nur das in ihnen eingeschriebene Äußere, die aktuelle Benennung, sondern auch das Vergehen der Zeit auf eine Weise wahr, wie es ausgesetzten Menschen eigen ist: "ohne jegliche Satzzeichen".
Was einem Lesenden ohne diese im eigenen Leben erfahrenen Verschmelzungen von Gewalt, Mythos und Not als saloppe Aneinanderreihung von an sich Unverbundenem erscheinen mag, ist für Venclova konkret und mystisch in einem: "die Zeit wächst an - ganz fremd und jedes Mal schwerer, / wird sie sie selbst ohne unser Zutun und Wissen." Dabei sieht dieser Dichter auch, auf welche Weise "ein Diktator den Fußball vergöttlicht, / der seinen Untertanen verboten ist". Diese Dichtung zeugt nicht nur - wie alle Dichtung - von sich selbst, sondern auch von einer Zeit, in der es überhaupt "Untertanen" gibt. Venclova erzählt uns auch von unserer eigenen Epoche, die wir seit diesem Februar neu lesen lernen müssen und die uns durch den Krieg in der Ukraine aufs Schmerzlichste bewusst geworden sein darf.
In seinen Essays versteht sich Tomas Venclova als "historischer Optimist", in seinen Gedichten sucht er die noch "unsichtbaren Tage". Im Brennglas seiner großen Kenntnisse mythischer antiker Verwebungen hat er eine Sprache gefunden, die aus der Geschichte heraus das Geschichtliche überwindet und in das allgemein Menschliche vordringt, um zu zeigen, dass die Bäume nicht nur hier, sondern, wie so oft bei ihm, zeitgleich etwas anderes tun, indem sie auch im Raum Platos leben. So findet er in seinen Gedichten am Ende dann doch das "Alphabet der Zeiten", indem er das Zeitliche durchschreitet, um es hinter sich lassen zu können. Michael Krüger hat ein Nachwort zu diesem Buch verfasst, das selbst eine feine kleine literarische Reise in die Welt von gestern ist, die er durch seine weltweit wirkende Arbeit als Verleger wesentlich mitgeprägt hat. Cornelius Hell, der im deutschsprachigen Raum als der beste Kenner litauischer Literatur gilt, hat Tomas Venclovas innere Jahrhundertgespräche mit Zikaden, Meeren, Äonen und Fischen mit ästhetisch unbestechlicher Feinheit ins Deutsche übertragen. Seine genaue Lesart ist wohltuend, sein langer Atem für diese wild ausschlagenden Gedichte beeindruckend. MARICA BODROZIC
Tomas Venclova: "Variationen über das Thema Erwachen". Gedichte.
Aus dem Litauischen von Cornelius Hell.
Edition Lyrikkabinett
bei Hanser, München 2022. 110 S., geb., 20,- Euro.
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