Konstruktion dieses Mythos nicht ganz unbeteiligt gewesen, als tschechischer Botschafter unterlag er wohl auch Beschränkungen, die einer objektiven Bewertung Havels als "Symbol des modernen tschechischen Staates" (so Václav Klaus in seinem Nachruf) nicht unbedingt förderlich waren. Und dennoch: Zantovský ist eine wunderbare, durchaus nicht apologetische und sehr spannende Erzählung dieses außergewöhnlichen Lebens gelungen - ein Buch, das man allen empfehlen kann, die mehr über das Jahr 1989 und den politischen Wandel in der Tschechoslowakei erfahren möchten, sich aber partout nicht langweilen wollen.
Eine gute Havel-Biographie ist überfällig. Daniel Kaisers Biographie in zwei Bänden ("Disident 1936-1989" und "Prezident 1990-2003"), die diesem Anspruch genügt, liegt bisher leider nur auf Tschechisch vor. Kaiser behandelt sehr ausführlich auch die widersprüchliche Rolle Havels in den deutsch-tschechischen Beziehungen, auf die Zantovský in seinem vorwiegend für den englischsprachigen Raum verfassten Buch leider nur am Rande eingeht. Doch während Kaiser sich dem im Grunde medienscheuen Präsidenten nur so weit nähern konnte, wie es einem Journalisten überhaupt möglich war, stand ihm Zantovský persönlich sehr nahe - er gehörte bis zu seinem Tod zu seinem engsten Freundeskreis. Dieser Kreis, schreibt er, "funktionierte unweigerlich wie ein Club, gelegentlich auch wie ein Hofstaat, wenn Havels kreativen Launen Folge zu leisten war". Auch die Burg-Flüchtlinge, die ihnen überdrüssig geworden waren, arbeiteten weiterhin "in verschiedenen Projekten mit ihm zusammen, korrespondierten miteinander, tauschten Ideen aus und boten ihre Unterstützung und ihren Rat an. Havel vergalt Gleiches mit Gleichem." Entgegen Zantovskýs Empfehlung, er möge eine Partei gründen, um seinen politischen Einfluss zu behalten, beharrte Havel bis zuletzt auf seiner Idee der "unpolitischen Politik". Seine informelle "Burg-Partei" behielt ihr politisches Gewicht, während die aus ihr hervorgegangenen Parteien - darunter die Zantovskýs - kläglich scheiterten.
Da und dort mag es dem Autor an Objektivität mangeln, und der an politischen Zusammenhängen interessierte Leser wird bei Kaiser gewiss gründlicher informiert, aber an Anschaulichkeit ist Zantovský kaum zu überbieten. Dies gilt naturgemäß vor allem für die Ereignisse von 1989 bis 1992, die er an der Seite Havels erlebte. Humorvoll und mit vielen Details schildert er, wie in diesen Heldenjahren der Bürgersohn und Bohémien, der Künstler, Dissident und Politiker in der Rolle des "Dichter-Präsidenten" verschmolzen und eine Lichtgestalt auf die internationale Bühne trat, die nichts weniger als das Wunder versprach, Politik und Moral zur Deckung zu bringen.
Auf der ersten Reise ins Ausland, die Havel nach München und Berlin führte, glichen der Präsident und seine Begleiter noch "weniger einem Staatsmann und einer Gruppe vornehmer Diplomaten als einem Rocksänger mit seiner Band einschließlich der Roadies, Groupies und Trittbrettfahrer. Es gab keine Auswahlkriterien. Alle, die mitfliegen wollten, taten es einfach. Die Besatzung der großen und lauten Sowjetmaschine bestand nicht aus gewöhnlichen Piloten und Stewardessen, sondern aus Personal des Innenministeriums. Es handelte sich de facto um Angestellte des Staatssicherheitsdienstes." Als ehemaliger Psychologe an einer psychiatrischen Klinik, als Journalist und Literat - unter anderem verfasste er eine Woody-Allen-Biographie - bringt der Autor die besten Voraussetzungen für die Schilderung des kreativen Chaos mit, in dem die neue Ordnung der Tschechoslowakei geboren wurde.
Zantovský hatte Havels Tod abgewartet, bevor er sein Leben zu beschreiben begann. Vermutlich nicht nur aus Gründen der Vollständigkeit. Sein Freund hätte wohl auf etlichen Korrekturen bestanden, manche Schattenseite aufgehellt, manch Persönliches - darunter sein schwieriges Verhältnis zu den Frauen - vielleicht glattweg gestrichen. Havel war vor allem ein Mann des Theaters, er verstand sich auf die Kunst, seine öffentliche Persönlichkeit zu inszenieren. Daniel Kaiser, der den ersten Band seiner Biographie noch zu Havels Lebzeiten verfasste, erzählte einmal, wie sehr der Präsident im Ruhestand und seine Entourage versuchten, auf seine Arbeit Einfluss zu nehmen. Havels Freundin Eda Kriseová, die - so Zantovský - "bekanntermaßen mit den höheren Sphären des Universums in Kontakt stand", ließ ihre Biographie von ihm sogar "autorisieren". Unter dem Titel "Fassen Sie sich bitte kurz" veröffentlichte Havel vier Jahre nach dem Ende seiner Präsidentschaft selbst noch eine Art Nachruf zu Lebzeiten.
Mit seinem Tod am 18. Dezember 2011 endete eine Epoche, die mit allen ihren Konfusionen, Schwächen, Widersprüchen die glücklichste der neueren tschechischen Geschichte war. Es war, als hätte sich plötzlich ein Anker gelöst, das Schiff mit der politischen Klasse des Landes und einem betrunkenen Kapitän an Bord sei aus dem sicheren Hafen der Vernunft und des Anstands ins böhmische Nebelmeer abgedriftet. Man denke nur an die systematische Verharmlosung des Putin-Regimes durch den gegenwärtigen Präsidenten Milos Zeman und vergleiche sie mit der Weitsicht Havels. Lange vor führenden europäischen Politikern erkannte er einen neuen Typ von Diktatur, die - wie er 2008 in einem Interview sagte - "wegen ihrer unauffälligen Maske besonders gefährlich ist" und "die schlimmsten Eigenschaften von Kommunismus und Kapitalismus in sich vereint".
KARL-PETER SCHWARZ
Michael Zantovský: Václav Havel. In der Wahrheit leben. Propyläen Verlag, Berlin 2014. 688 S., 26,- [Euro].
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