Benn.
Ihre Widersprüchlichkeit wird im wissenschaftlichen Gehäuse eines "Inkompatibilitäts-Diktums" veranschlagt. Immerhin: Hier herrschen konsequente Fragen. Kann in den Dunkelkammern eines falschen politischen Bewußtseins literarische Qualität gedeihen? Und, vor allem: Wer entscheidet, was politisch korrekt und ästhetisch gut ist? Der Kritiker, als Intellektueller. Aber dann: Ist auch er nicht, wie der Autor, politisch-moralisch anfechtbar? Anders gesagt: Wie härtet er seine Maßstäbe? Und zuletzt: Woher gewinnt der, der die "Wertungsmechanismen" dieser Kritiker untersucht, einen eigenen kritischen Standpunkt?
Indem er - sie - diesen Dominoeffekt durch ein historisch gewachsenes parti pris zum Stillstand bringt. Dieses hat bereits die Auswahl der Fälle gesteuert. Mit Malaparte, Céline und Benn werden Autoren zur Debatte gestellt, die durch ihre Nähe zu "rechtstotalitären Systemen" im Zwielicht stehen. Parteigänger linker Diktaturen wie etwa Breton, Gramsci, Brecht oder Sartre scheiden aus "Komplexitätsgründen" aus. Der Weg ist dadurch frei, um jene mit Andersch, Adorno, Vittorini und Sartre vor den moralischen Gerichtshof antifaschistischer Intellektueller zu stellen. Das muß in Deutschland wohl so sein. Über deren Urteil besteht kein Zweifel. Diesem Konflikt geht die Arbeit nach, mit großer Ernsthaftigkeit, systematischer Umsicht und Ordnungswillen. Das hat allerdings seinen Preis. Wer sich auf die Hochebene der "Metareflexion" begibt, hat kaum Augen für das, was unterhalb liegt - die literarischen Texte selbst.
Die Befunde entsprechen dem. In den literarischen Zweikämpfen treten - nicht völlig unerwartet - eine Reihe von Paraden zutage, die die Widersprüchlichkeiten zwischen Kunst und Politik als wechselseitig bedingt erklären ("Korrelation"), als unaufgelösten Gegensatz ("Kontradiktion"), als ungereimtes Nebeneinander ("Koexistenz"), ja als "kompatibel" oder kausal. Dies alles stimmt, solange man nur auf ihr "moralisches Versagen" achtet. Zahlreiche Äußerungen belegen jedoch, daß sie sich selbst nie zuerst ideologisch oder gar moralisch verstanden haben: Künstler wollten sie sein und daran gemessen werden.
Das begründet keine Entschuldigung, aber ganz andere "Argumentationsmuster". Ihr Parteiprogramm, als Künstler, hatten, wenn überhaupt, die historischen Avantgarden formuliert. Ihre eigenen Maßstäbe waren die Provokation, der Skandal, die verbale Brandstiftung, der Tabubruch. Trotz aller diskriminierender Annäherungen: Politisch waren sie nicht wirklich bindungsfähig. Céline begriff sich in erster Linie als Anarchist. Er warf Granaten in die literarische (und politische) Welt. Malaparte, das Chamäleon, zeigte, bei allem, was er tat, stets auf die Masken, die er dabei trug. Nichts als "terroristische Seifenblasen", beschied ein Zeitgenosse, bringe sein avantgardistisches Skandalrezept hervor. Lange wirkt bei Benn das Erdbeben nach, das "Morgue und andere Gedichte" ausgelöst und ihn zum expressionistischen Bürgerschreck werden ließ. Das machte ihn letztlich von allen Seiten her angreifbar. Zumindest hat er es, als Dichter, so empfunden.
Wäre moralisches Versagen also wirklich das erste Kriterium, an dem sich Literaten messen lassen müssen, dann hätten die drei Fälle, stellvertretend, ihren größten Skandalerfolg erzielt - als sie die höheren Weihen der Kanonisierung erhielten. 1999 wurde Benn, "unser National-Gottfried", zum bedeutendsten Lyriker erkoren, weit vor Celan und Brecht. Céline ist längst in den Sternenhimmel der Pléiade-Ausgaben aufgenommen; ein Klassiker, der selbst Proust in den Schatten stellen soll. Daß von Malaparte seltener die Rede ist, hat keine ideologischen Gründe. Außer den Tabus, die er aufwirbelte, blieb wenig übrig. Allenfalls kommt er, der gedanklich überall auftauchte und nirgends blieb, als Verkörperung postmoderner Beweglichkeit neu in Betracht.
So wie ein bestimmter Anfang schon ein bestimmtes Ende in sich birgt, so erweist sich mithin das Problem der Literaten zuletzt als eines ihrer Kritiker. Denn langfristig, bliebe nüchtern festzuhalten, können sich ästhetische Tugenden offensichtlich gegen moralische, ideologische oder politische Untugenden durchsetzen. Das war vergleichsweise auch bei Heidegger so, zumal in Frankreich. Mit der Konsequenz, daß die Antwort auf die Frage nach der Rezeptionsgeschichte von Malaparte, Céline und Benn auf die Gegenfrage hinausläuft: Mit welchen Qualitäten können die Werke sich gegen Anfechtungen ihrer Autoren behaupten? So leicht ist das alte Lied der Hermeneutik nicht zum Schweigen zu bringen.
WINFRIED WEHLE
Astrid Arndt: "Ungeheure Größen: Malaparte - Céline - Benn". Wertungsprobleme in der deutschen, französischen und italienischen Literaturkritik. Niemeyer Verlag, Tübingen 2005. 380 S., br., 70,- [Euro].
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