und ermöglichte stattdessen soziale Innovationen. Und zwar, indem sie einen starken Kulturrelativismus verfocht, die Überzeugung, dass Verhaltensweisen, Ausdrücke, Artefakte nur aus der Innensicht einer Kultur zu verstehen seien. Der Königsweg dahin hieß Feldforschung, oder auch "teilnehmende Beobachtung".
Den vorliegenden Band kann man als Tiefenschärfung dieser Wissens- und Kulturgeschichte lesen. Er ist ein akademisches, aber beileibe kein trockenes Buch, eher skizzenhaft und in seiner Kapitelfolge nicht zwingend. Er bringt dem Leser einen Franz Boas nahe, der bei dem Versuch, in die Matrix anderer, in diesem Fall indianischer Kulturen an der Nord- und Nordwestküste Amerikas, einzudringen, zwar die Energien seiner vielfach halbindianischen Mitarbeiter mobilisierte, aber vor der letzten Synthese zurückschreckte. Boas habe sich vor allem gegen die Verdinglichung von Kultur gewehrt, heißt es, gegen Völkerschauen, wie er sie noch bei Hagenbeck in Hamburg kennenlernte, sowie gegen das Museum - er selbst war zwischen 1896 und 1905 am American Museum of Natural History angestellt - und dessen Überbewertung materieller gegenüber immaterieller Kultur. Für ihn, so die Autorinnen, "gelangten die im Feld gesammelten Objekte erst voll und ganz zu ihrer Existenz, wenn sie mit Erklärungen in Verbindung gebracht werden konnten, die von den Eingeborenen - und am besten von verschiedenen Gesprächspartnern - geliefert werden konnten".
Und genau hier stellte sich das nächste Problem: Wie waren diese Äußerungen zu übertragen? Der Beantwortung dieser Frage durch Boas' Praxis widmet sich der größte Teil des von Michael Bischoff gewohnt elegant übersetzten Buches. Hier legt die Studie den Finger ins Detail, und damit in die Wunde, in der der Teufel steckt. Boas sammelte seit 1895 indianische Mythen, er verwendete englische Interlinear- und dem Originaltext gegenüberstehende Übersetzungen und sprach mit dieser Vielfalt an Zugangsweisen den indigenen Zeugnissen dieselbe Dignität zu wie dem griechisch-lateinischen Kulturerbe. Die Interlinearübersetzungen gingen dabei großteils auf indigene Mitarbeiter zurück, die das Englische anschmiegsamer machen sollten. Außerdem maß Boas dem musikalischen Ausdruck großen Wert zu: da er aber den Phonographen als zu ungenau erachtete, galt es Notationen nach Gehör anzufertigen. Letzteres musste, wie das Sprachverständnis überhaupt, ausführlich trainiert werden. Zugleich durfte es kein Berufsgehör werden: "Tonblindheit" stelle sich ein, wo man aufgrund seines reichen Wissens vorschnell Ähnlichkeiten annimmt - so wie der dem arktischen Wahnsinn verfallene Missionar Émile Petitot, der in den Dialekten der Dene-Indianer "Relikte aus der Bibel" zu hören glaubte.
Die Gefahr, dass wissenschaftliche Genauigkeit in pure Unterstellung umschlagen könnte, scheint Boas zunehmend beschäftigt zu haben. Zwar sei es in der Regel für das Verständnis eines indianischen Mythos wichtig, die Umstände seiner Aufführung zu kennen, ebenso, wer ihn aufsagen durfte, doch ein zu großer Detailreichtum wiederum - die Namen oder gar die individuellen Wesenszüge der Sprecher - würden auf Seiten des Beobachters und Übersetzers zu unbeabsichtigten Verzerrungen führen. Der Wissenschaftler Boas navigierte zwischen scharfen Klippen wie seine Eskimo vor Baffin Island. Ist es, so gelesen, nicht gerade der Wunsch, die Kategorie des Kontextes für die erhobenen Daten und Texte nicht zu gefährden, der zur Dekontextualisierung führte?
Im Schlusskapitel konfrontieren die Autorinnen Franz Boas mit Claude Lévi-Strauss, der Jahrzehnte später im Protostrukturalismus der indianischen Sagen einen Vorläufer des eigenen Ansatzes entdecken wollte. Dem steht indes Boas' Glauben an die Sprache als kulturelles Unbewusstes entgegen, deren Assoziationsketten zu verfolgen für die Analyse von Gesellschaften vielversprechender sei als das Zerschneiden und Neuzusammensetzen eines Mythos (worin Boas sich ebenfalls übte): "Ich neige zu dem Glauben, dass zum Beispiel das oft auftauchende Bild des Verschlingens von Reichtümern in engem Zusammenhang mit der detailreichen Form der Winterriten der Indianer der Nordpazifikküste steht." Der Wortlaut der von Boas gesammelten Texte führt also auf die Spuren einer "Grammatik der sozialen Ideen". Seine Schüler entwickelten diesen Gedanken zur Sapir-Whorf-Hypothese weiter. Dass für all diese Überlegungen Humboldts Theorie von der "angeborenen Sprachform" Pate stand, verschweigen die Autorinnen leider.
Im Oktober 1895 erhielt Franz Boas Besuch von einem jungen Gelehrten aus Übersee, der wie er die Konversion ablehnte und darum in Deutschland nicht Professor wurde: Aby Warburg. Auch er gehört zu den Avantgardisten einer Kulturwissenschaft, nur wird er im Gegensatz zu Boas noch gelesen. Das hat sicher damit zu tun, dass Warburg im strengen Sinn keine Schule begründete, die sein Wirken vollumfänglich hätte aufnehmen oder verstetigen können. Zugleich scheint er seinen Wunsch, Indianer zu werden, verwirklicht zu haben: In ihrem Bild, im Schlangenritual, das den "Andachts"- zum "Denkraum" erweitert, sieht er sich mitgemeint, während Boas die Indianer in ihrer Sprache nur erreichen will. Die Verschränkung von Disziplin und Selbstverlust, von skrupulösem Durcharbeiten und mimetischer Energie, von Boas und Warburg also, das bleibt der in die Vergangenheit projizierte Traum kulturwissenschaftlicher Fremd- und Selbsterkenntnis. ULRICH VAN LOYEN
Camille Joseph und Isabelle Kalinowski: "Unerhörtes Sprechen". Franz Boas und die indianischen Texte.
Aus dem Französischen von Katrin Heydenreich. Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 175 S., Abb., geb., 26,- Euro.
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