sich für seinen zweiten Roman nun allerdings zunächst einmal großzügig in der verstaubten Rüstkammer der Romantik bedient. "Trojaspiel" beginnt wie eines von Hoffmanns "Nachtstücken", auch wenn die Handlung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzt: Ein junger Mann mit dem altertümlichen Namen Tonio Ludwig entdeckt auf dem Dachboden der "von Efeu und Kletterrosen umrankten" Villa seiner verstorbenen Großeltern eine "wuchtige Truhe", und als er das "schwere Vorhängeschloß" aufbricht, sieht er sich einem Stapel architektonischer Zeichnungen mit Entwürfen für ein dreidimensionales Labyrinth gegenüber.
Auf einer der Skizzen, die mit den Initialen "T. L." signiert sind, ist die Anschrift eines Hotels in New York vermerkt. "Es gibt keinen Telefonbucheintrag und keine Richtlinien für die Aufnahme der Gäste", stellt Tonio fest, als er kurz entschlossen nach Amerika reist. Vor allem aber befindet sich in den oberen "verbotenen" Stockwerken des "Palace of Troy" eines der Labyrinthe, wofür er die Pläne besitzt. Der Besitzer des heruntergekommenen Gebäudes, ein alter armenischer Einwanderer namens Mahgourian, ist bereits seit Jahren auf der Suche nach dem geheimnisvollen Architekten, der in dem Hotel seine "urbane Vision von einem Schloß mit einem labyrinthischen Lustgarten" verwirklicht hat. Jetzt überredet er seinen deutschen Besucher, sich gemeinsam mit ihm auf die Suche nach jenem T. L. zu machen, "der mit Akribie Häuser plant, in denen ein wirres Gangsystem zu einem immer bestimmten Ziel führt".
Ihre an Umwegen reiche Reise führt sie unter anderem in die Katakomben von Rom und nach Kreta, an den "Ursprung aller Irrgärten". Das "Labyrinth", das begreift man schnell, ist nicht nur die Obsession einer Romanfigur, sondern ein Symbol für den Irrgarten des Lebens - und für die Literatur, in der man sich wohl ebenfalls verlieren kann. So versucht der 1964 geborene Marc Höpfner sich noch einmal im trauten Einklang mit der Romantik an der einst von Friedrich Schlegel propagierten Idee des Romans als Arabeske und läßt aus den eigentlich recht dürren Handlungszweigen des "Trojaspiels" immer wieder neues narratives Blattwerk ranken. Ob es die traurige Lebensgeschichte eines "anorektischen Hippiemädchens" ist, in das Tonio sich verliebt, oder ein längst vergessener Mordfall in einer "kleinen deutschen Garnisonsstadt", in den möglicherweise auch T. L. verwickelt war: Insbesondere Mahgourian, dem "als Armenier das Geschichtenerzählen" selbstverständlich "im Blut liegt", verbindet "lose Fäden, widersprüchliche Ideen oder ganz unerhörte Lebenszeugnisse" zu einer "organischen Fabel".
Man darf nach der Lektüre des sich immer mehr zerfasernden "Trojaspiels" bezweifeln, daß auch Marc Höpfner selbst dieses Talent besitzt. Sehr viel interessanter als das allmähliche Scheitern des Autors an seinen eigenen, recht hohen konzeptionellen Ansprüchen sind jedoch die Sehnsucht, die sich hinter dem neoromantischen Idealbild des Romans als eines sich endlos verzweigenden Labyrinths von Geschichten verbirgt - und der Ort, an dem diese Sehnsucht befriedigt wird. Es stellt sich nämlich heraus, daß der geheimnisvolle T. L. im Jahre 1899 als uneheliches Kind in der damals blühenden Hafenstadt Odessa zur Welt kam.
Der gesamte zweite Teil des Romans ist nun den ersten Lebensjahren des zukünftigen Architekten gewidmet. Während sein Roman sich zunächst kaum durch atmosphärische Qualitäten ausgezeichnet hatte und das Rom und New York der Gegenwart genauso leblos wirken wie Tonios verschlafene deutsche Heimatstadt, dreht Marc Höpfner in der historischen Rückschau plötzlich richtig auf. "Der Geruch der Straßen war nicht weniger betäubend als ein Schlag auf den Kopf", erfahren wir bei einem der zahlreichen synästhetischen Rundgänge durch die Moldavanka, das Elendsviertel Odessas. Wir sehen in die "gelblichen Augen" schmutziger Kindergesichter, hören die "Unzüchtigkeiten" in der Rasumoskistraße und das "betrunkene Kreischen eines Mädchens".
Spätestens wenn Rabbi Birnbaum den kleinen Theo "Jingele" nennt und draußen auf der Straße "Schrul Spiro" mit seinem Handwagen vorbeispaziert, gefolgt von dem "einäugigen Zelig Katzenbauch, der getrocknete Makrelen an einer Schnur um seinen Körper trug", verwandelt sich Marc Höpfners expressionistische Armutsliteratur in eine nostalgisch gefärbte Ghetto-Lyrik, die vor keinem Klischee zurückschreckt. Mit Hilfe des Korsettbinders Jontel Leizermann und der Perückenmacherin Perla Galiskaia, aber auch der "schönen und unbezwingbaren" Kosakin Manka und des ewig betrunkenen Russen Kotusov zeichnet Marc Höpfner in erster Linie das Bild einer multikulturellen Elendsutopie. Seine folkloristisch überfrachtete Fabulierlust paßt damit ganz wunderbar zu den wehmütigen Blicken, die man vor allem in Deutschland derzeit gerne in die Vergangenheit Osteuropas wirft, um dort zwischen Galizien und dem Schwarzen Meer von einem anderen, unschuldigen Europa zu träumen.
Zuletzt schließt sich darum auch der weitgespannte Bogen des Romans, und man erfährt, daß die Besessenheit des späteren Baumeisters Theodor Lanaiev ihren Ursprung in einem unübersichtlichen System von Tunnels, Gängen und Galerien hat, die einst in den Muschelkalk unter der Stadt Odessa getrieben worden sind. Zusammen mit dem Gassengewirr der alten Stadt und den ungeraden Lebensläufen ihrer Bewohner entführt Marc Höpfner seine Leser so in eine romantische Traumwelt. "Ein Labyrinth ist nicht der düstere Kerker. Nicht für jeden. Es kann auch schützen", erklärt der Autor, als er auf das antike Ritual der ludi troiae zu sprechen kommt, die dem Roman seinen Titel gegeben haben: Römische Adlige ritten die Bahnen eines Irrgartens ab, um eine "symbolische Mauer" um ihre Stadt zu ziehen.
Und genau darum geht es. Mit seinen verschlungenen Wegen durch die osteuropäische Vergangenheit, seinen geistreichen Winkelzügen, umständlichen Satzkonstruktionen und gelehrten Verweisen in die Gattungsgeschichte ist "Trojaspiel" nämlich zuletzt vor allem eins: ein Schutzwall rund um die gähnende Leere der jüngeren deutschen Literatur, die sich in diesem Fall lieber in den engen Straßen einer versunkenen Epoche verliert, als einen Blick aus dem Fenster in das Hier und Jetzt zu werfen. Wer sich tatsächlich durch die mehr als fünfhundert Seiten hindurcharbeitet, wird enttäuscht sein. Im Innern dieses Romans, der unbedingt ein Labyrinth sein will, wartet nichts. Wirklichkeit ist woanders.
KOLJA MENSING
Marc Höpfner: "Trojaspiel". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2005. 536 S., geb., 24,- [Euro].
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