spielt offensiv mit Autos, Markennamen, Geschwindigkeit, Tempo, Beschleunigung, Infotainment, den unangenehmen Facetten des Gegenwartsjargons. Die andere Hälfte steuert dagegen. Hier verwandelt sich die Sprache der Dinge plötzlich, wird das Zufällige, Beiläufige, Banale kanalisiert, kommen, ohne dass es schal oder larmoyant wirkt, Herztöne zu Wort - und immer wieder Zwiegespräche mit einem unheimlich nahen, vertrauten, doch dann plötzlich unglaublich fernen, entfliehenden Du. Kein Zweifel, das Ich lässt Gegenwart durch sich hindurchfluten und hält dort inne, wo sich etwas, und seien es bloß flüchtige Momente, dem reibungslosen Fluss widersetzt. Und gibt ihm Form: Hier greifen die Werkzeuge, die das Buch im Titel führt.
Nun macht es bekanntlich den Reiz eines Gedichtes aus, dass man ihm die Mittel, die ihm zur Entstehung verhalfen, gar nicht ansieht oder nur indirekt, beim dritten Lesen, wenn man spürt: Hier stimmt immer noch jedes Wort. Die "Tools" sind gute handwerkliche Arbeit, in diesem Sinn. Sie haben sich an die Gegenwart geheftet, ans Vergängliche, um ihm das Dauerhafte abzutrotzen - und lassen dabei auch dies selbst noch leicht und flüchtig erscheinen: "Ohne dass du es merkst, werden die Hügel / von einer Frauenstimme gepierct. Cecilia / Bartoli singt übers Eis, und die Landschaft / erzittert. Wären wir eine halbe Stunde später // gefahren, wir hätten den Stau vermieden. / Aber du wolltest weg. Die eigene Haut / steht in Flammen. // Das Ende eines weiteren Tags / löst sich auf. Nach dem Lied / kommen die Nachrichten. / Ich wäre gern in Korea // geblieben. Aber der Norden droht wieder / mit Krieg. Dann ist der Stau hier doch besser. / Bei so vielen Dingen kapituliere ich. / Granatäpfelkerne gehören nicht dazu."
Das Zufällige wird hier zum Katalysator eines schönen, rätselhaften Gedichts. Unsichtbares "Werkzeug" war dabei das poetische Kalkül, den Zufall dem Gedicht dienstbar zu machen, ohne dass es dabei reiner Willkür preisgegeben ist. Offenheit bleibt das erste Ziel dieses und vieler anderer Gedichte von Matthias Göritz, das zeigten schon die Vorgängerbände "Loops" (2001) und "Pools" (2006). Die Bedeutung, die Rolf Dieter Brinkmann als tote Vaterfigur-wider-Willen in diesem Kontext mit seinen vor fast vierzig Jahren entstandenen Gedichten nicht nur für Göritz besitzt, ist unübersehbar. Die Werkzeuge oder die Formen dafür gehen auf Brinkmanns vielstimmiges Konzept einer grundsätzlichen Offenheit zurück - was Göritz jedoch daraus macht, steht auf einem anderen Blatt. "Brinkmann" ist sicher einer der großen Werkzeugkästen in Göritz' Garage, aber lange nicht der einzige.
Offenheit, das heißt auch Offensein fürs Existentielle, für die Liebe, den Schmerz, den Tod: "Erstens: Die Tamarinde schließt ihre Blätter / am Abend und macht sie morgens wieder auf. / Alexander wusste es. Er war ein Eroberer. // Vielleicht dachtest du zu viel. Das Wetter, / Umschlag des Gefühls in die Ware: schön / sonnig, mild, heiter, angenehm. // Zweitens: Niemals schläft die Mimose. So / eingerollt zwischen den Kapillaren, ein / eingeschnapptes Crêpe, dünn wie der Hauch // deines Atems morgens um halb vier, / neben mir; noli me tangere. / Li Bai wußte es, Du Fu, Wang Wei. // Der Mond scheint mich zu trinken. / Die Verbannung endet im Schlaf. / Manchmal beginnt sie da auch."
Manchmal führt der Dichter einen beim Lesen auch auf die falsche Fährte. Was da im zweiten Teil des Bands als virtuoser, leichtfüßig-gekonnter Sonettenkranz daherkommt, ist in Wirklichkeit ein verdammt gerissenes Roadmovie über ein mit allen Wassern gewaschenes Ganovenpärchen à la Bonnie & Clyde, das in vierzehn verschiedenen Wagentypen Station macht, im Westen Europas beginnend, um schließlich, immer weiter ostwärts fortgestohlen, sein furioses Finale am Donaudelta zu erleben. Mit nichts in den Händen. Oder eben nur Autos - und einer großen Liebe, die das fünfzehnte, das Meistersonett, beschwört: "An dieser Stelle steht dein Name: Du."
Der Osten bleibt in der Tat Göritz' große poetische Entdeckung. Schon vor zehn Jahren war in "Loops" das gegenwärtige Moskau kongenial eingefangen, und nun ist der dritte Teil der "Tools" Warschau als Stadt mit schillernder Gegenwart und blutiger Historie gewidmet. Beides fließt in den Gedichten oft überraschend ineinander, überlagert sich mit Zitiertem, Aufgeschnapptem, Erinnertem. Chopin und Die Dame im Hermelin, E. T. A. Hoffmann und die Tiere des 1939 bombardierten Zoos Zoliborz und Winterverse von Pierre Reverdy haben neben anderem alle ihren Platz in Göritz' Warschau-Mosaik. Erstaunlich, dass all diese Tools auf engstem Raum mit- und nebeneinander erscheinen, das Sonett, der beiläufige Reim, die vermeintliche écriture automatique des langen Wahrnehmungskatalogs, die dann doch eine verblüffende Volte ergibt; und schließlich, im vierten Teil, auch noch ein langes Erzählgedicht über die Konjunktur der Tulpen im sechzehnten Jahrhundert - der niederländische "Tulpenwahn" als Sinnbild einer mit ungedeckten Werten spekulierenden Unkultur, hinter der sich der blinde Glaube an den Segen ungehemmter globaler Kapitalströme verbirgt: politische Lyrik als Genremalerei getarnt.
Nicht zu vergessen im Schlussteil die beiden wunderbaren Widmungs- und Porträtgedichte an einen weiteren Vater sowie eine Mutter der Tools, Günter Eich und Emily Dickinson. Ist das erste eine phantastische Fortschreibung der berühmten "Maulwürfe" Eichs ins Jetzt und Hier, so das zweite die Replik auf Emilys natürlichen Werkzeugkasten: den Klee und die Biene. Mehr braucht es auch heute nicht, wenn man es nur raffiniert genug anstellt. Und das tut Göritz mit fast jedem Vers, jedem mit seinem lyrischen Automobil bewältigten Kilometer Welt.
JAN RÖHNERT
Matthias Göritz: "Tools". Gedichte.
Berlin Verlag, Berlin 2012. 100 S., geb., 19,90 [Euro].
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