tun. Alles hat immer mit ihnen zu tun, darin liegen der unmittelbare Reiz und das verborgene Problem dieses Debütromans, der die Anspielungen und Zeichen so eng setzt, daß man beim Lesen unwillkürlich immerfort "aha" nicken möchte.
Gegen die massige Monadenwelt ihres Freundes hält die Erzählerin Alice das Gesetz der sich verlaufenden, wieder auftauchenden, sich neu verlierenden Spur ihrer selbst. Bevor sie als Ethnologiestudentin zu ihrem Freund Raul nach Paris zog, lebte sie eine Zeitlang als Alicia beim philosophischen Einzelgänger Sergio im spanischen Dorf, dessen Name dem Roman seinen Titel gab. Erinnerungen von Sand, Pinienwäldern, Hitze, Kälte, staubigen Feldwegen mit kläffenden Hunden steigen auf. Auch darüber hängt aber die Luftblase Paris, denn Sergio hatte in einer früheren Lebensphase, bevor er Alicia kannte, ebenfalls einmal ein paar Monate oder Jahre in der Pariser Boheme verbracht. So dringt in die annähernd glückliche, etwas biedere Boheme-Gegenwart mit Raul für Alice der herbere Hauch von Sergios früherem Leben, wohl kurz nach der Studentenbewegung. Von der Pariser Alice löst sich im Gedanken an Sergio und dessen einstige Freunde, die der jungen Frau aus Erzählungen bekannt sind, die Alicia aus der Zeit in Tolmedo ab. Diese setzt sich, immer unabhängiger werdend, über die konkrete Erinnerung der Erzählerin hinweg und bewegt sich schließlich frei durch den Roman, "als wäre sie zu einer der Figuren aus Sergios Erzählungen geworden".
Die Verbindung dieser erzählerischen Doppelperspektive ist der vierunddreißigjährigen Autorin, die seit neun Jahren in Paris lebt, gut gelungen. Kapitelweise wechselt die Erzählung zwischen erster und dritter Person und verstrickt das eigene Selbst in ein Verwirrspiel unterschiedlicher Lebensspuren. Das gekonnt eingesetzte Mittel der indirekten Rede setzt die Gespräche und Situationen auf eine zwischen Realität und Vorstellung subtil flimmernde Distanz. Alice alias Alicia ist als Erzählerin und Figur so breit angelegt, daß sie alles Geschehen immerfort aufsaugt.
Da schlägt aber die Monade zurück und drängt die anderen Figuren ins Reich der konstruierten Schemen. Raul ist der gutmütig teekochende, im Atelier mit Lötkolben hantierende und Zigarettenstummel ins Spülbecken werfende Gegenwartshöhlenbewohner mit mexikanischem Französischakzent. Sergio, der argentinische Intellektuelle mit den schwieligen Händen, seit er sich in Spanien mit Handwerksarbeit durchs Leben bringt, brütet dagegen, ebenfalls dunklen Tabak inhalierend, nachts über den Büchern. Und der Maler Chaco, der einst all seine Bilder in die Seine warf und in der algerischen Wüste bemalte Steine im Sand vergrub, ist kaum mehr als ein Gerücht.
All diese Profile sind fein gezeichnet. Wie aber die Erzählerin sich nachts an solche Männer schmiegen und tagsüber, wenn sie nicht gerade an ihrer Doktorarbeit über nordafrikanische Wüstenfresken sitzt, an ihrem Charakter sich stoßen will, kann man sich nur metaphorisch vorstellen. An Winken dazu, einer bedeutsamer als der andere, ist im Roman denn auch tatsächlich kein Mangel - Cioran, Macedonio Fernández, Raymond Chandler im Bücherregal, die Abgründe zwischen Morandis gemalten Flaschen und Vasen, die Sergio der Alicia einmal erklärte, der Gegensatz zwischen Wagners Mythen- und Verdis Menschentragödie, über den Raul und sein Freund sich unterhalten: ein Horizont der Bedeutsamkeiten, der sich weit und fern über das im Detail geschilderte Alltags-Paris spannt wie ein komplizierter Traum.
Beim Durchqueren der mit Sergios Erinnerungen besetzten Stadt dämmert der Erzählerin, vielleicht seien auch das ja nur "die wuchernden Triebe der Vorstellung oder eines Gedankens, der mir einmal in einer dieser Straßen kam und der nun als falsche Erinnerung in dem Flechtwerk meiner inneren Bilder verknotet ist". Das könnte wohl sein. Es wäre dann die falsche Erinnerung einer Monade, die sich zwischen In- und Auswendigkeit, zwischen Selbst- und Weltbezug nicht entscheiden kann.
Angelica Ammar: "Tolmedo". Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006. 257 S., geb., 18,90 [Euro].
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