Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2010Als Hering zur ArbeitNein, Japan, du hast es nicht besser. Und was du mitunter von deinen Bewohnern verlangst, macht dich nicht immer sympathisch. Etwa die Sache mit den Schnellbahnen, die häufig fahren und doch noch immer nicht oft genug, um alle Angestellten in entspannter Atmosphäre morgens zur Arbeit nach Tokio und abends nach Hause zu bringen.
Wie schön war das in New York, als Walker Evans und Bruce Davidson Platz nahmen, um die Fahrgäste beim alltäglichen Meditieren zu Fotografieren. Michael Wolf hingegen, ebenfalls Fotograf, schaffte es in Tokio oft nicht einmal in die Bahn hinein. So nahm er die Passagiere vom Bahnsteig aus auf, wie sie schwitzend wie in der Sauna und eingezwängt wie Heringe in der Dose gegen die Scheiben gedrückt werden und wie statt Gesichtern nur noch Fratzen aus dem Fenster schauen. "Tokyo Compression" ist ein grandioses Buch, das den öffentlichen Nahverkehr zum Kabinett des Horrors macht. Dann lieber laufen. (F.L.)
"Tokyo Compression" von Michael Wolf. Peperoni Books, Hongkong 2010. 112 Seiten, 75 Farbfotos. Gebunden, 28 Euro.
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