englische Schriftsteller John Berger aus einem Briefwechsel mit seiner Tochter Katya Berger Andreadakis über den großen venezianischen Maler gemacht hat, unterläuft das Erdrückende seines Gegenstands durch ostentativen Privatismus. Katya hatte 1991 in Venedig die im folgenden Jahr in Paris wiederholte große Tizian- Ausstellung besucht und tauschte daraufhin mit ihrem berühmten, kunstversierten Vater Eindrücke aus (übrigens nicht nur über das titelgebende Bild von Nymphe und Schäfer). Offenbar ist der Briefwechsel weithin authentisch, also kein Stilisat, wie es Dialoge und Briefwechsel in der Kunstliteratur oft waren. Eine andere Möglichkeit als solche Vater-Tochter-Intimität (mitsamt John Bergers eigenen Tizianskizzen) wäre nüchternste Trockenheit gewesen. Auch wer eher mit einer solchen Lösung sympathisiert hätte, wird doch dankbar die drei, vier Wahrnehmungen aus dem enthusiasmierten Geplauder der beiden mitnehmen, denen sich eine Einsicht in Tizians Kunst abgewinnen läßt.
John Berger stellt fest, daß Tizian als erster europäischer Künstler in seinen Spätwerken die manuellen Gesten des Malens, des Farbauftrags auf der Leinwand offen sichtbar gemacht habe, statt sie zu verstecken und zu verschleiern. Das paßt gut zu der Beobachtung von Tochter Katya, Tizians Menschen und Körper seien bei sich, als gäbe es nichts sonst auf der Welt. Malerei wird bei Tizian malerisch, sie zeigt sich selbst in den Pinselstrichen, in der durchscheinenden Textur der Leinwand; insofern wird sie musikartig, denn sie löst sich vom Illusionismus und läßt die Farben mit sich selbst spielen wie Töne. Der aufgegebene Illusionismus verwandelt sich in harmoniesüchtige Selbstvergessenheit, in Freude, Lust, Trauer aus Farbklängen. Tizians Bilder sind, je später, desto mehr, lautlose Selbstgespräche.
Erklärt sich daraus nicht, worüber beide Bergers sich wundern, nämlich daß das gleiche bräunlich-friedliche Licht über Tizians erotischer Schäferszene wie über der Grausamkeit der Marsyas-Schindung liegt? Die Bergers entwickeln eine ziemlich spekulative Anschauung von Tizians Erotik, von seiner Besessenheit durch Haut, Fell und andere Materialien. Aber haben sie je darüber nachgedacht, was im sechzehnten Jahrhundert solche Stoffe bedeuteten, daß sie Heizung ersetzen und Hitze abwehren mußten? Sie waren vielleicht erotisch auch deshalb, weil sie darüber hinaus unendlich kostbar waren.
"Die Natur kommt uns im selben Maß näher, wie unsere sogenannten Nächsten sich von uns entfernen", schreibt Katya Berger. John entdeckt solche Naturliebe in Tizians vielen Hunden, und jedenfalls zeigt unsere Abbildung, ein Ausschnitt von "Knabe mit Hunden" (um 1570), beides: die Selbstfeier der Malerei im Pinselschwung und die Faszination durchs seidig glänzende Fell des Tieres, das der Betrachter selbst spüren zu können meint.
John Berger und Katya Berger Andreadakis: "Tizian - Nymphe und Schäfer". Prestel Verlag, München 1996. 118 S., Abb., geb. 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main