schlagen.
Blumenberg bleibt auf eigene Weise lebendig, und bekräftigt wird dies durch die gerade aus dem Nachlass veröffentlichte "Theorie der Lebenswelt". Man muss allerdings mit den Nachlassverwaltern und -editoren hadern, denn sie zerren aus schier unerschöpflichen Papierstapeln nach schwer durchschaubaren Kriterien alle möglichen Texte ans Licht der Öffentlichkeit, die sich dann im feinsten Anzug, mit Leineneinband und weißem Umschlag, als Klassiker geben.
Immerhin: Weil Blumenberg unzeitgemäß war, kommt er heute als Zeitgenosse in Frage. Der Meister des Rückzugs kann gar zum Vorkämpfer avancieren, denn seine Theorie der Lebenswelt taugt auch als Anstoß, um den Geisteswissenschaften neues Selbstbewusstsein einzuflößen. "Immer wieder erweist sich als eine der Illusionen im Umgang mit Theorien aller Art", hält Blumenberg fest, "dass von dem Bestimmtheitsgrad der Begriffe, die sie einführen und verwenden, ihre Qualität schlechthin abhinge." Wogegen er die Einsicht in Stellung bringt, "dass die Strenge bei Bildung oder Zulassung von Begriffen eher Sterilität begünstigt als präzisen Fortgang" bewirkt, und für eine "Tugend verminderter Strenge" plädiert.
Die Pointe dieses Einwands liegt nicht in der Defensive, mit der die Geisteswissenschaftler ihre Geltungsansprüche mindern, sondern in der Attacke: Wer bei der Interpretation des menschlichen Lebens und der Lebenswelt allzu große Strenge walten lässt, wird seinem Gegenstand nicht gerecht. Es nützt nichts, wenn man sich mit hohen methodischen Standards brüstet und dabei so ahnungslos bleibt wie jemand, der ein Bild von Jackson Pollock klecksweise beschreibt.
Dass Blumenberg gerade in einem Buch über die "Lebenswelt" für die "Tugend verminderter Strenge" plädiert, ist kein Zufall. Denn diese Lebenswelt ist nicht von "Verständlichkeit", sondern von "Selbstverständlichkeit" geprägt; sie macht es uns schwer, uns mit strengem Schnitt und schnellem Schritt über uns selbst zu erheben; sie kommt als "unbegründete Totalität" allen Vernunftmenschen zuvor, die sich selbst und die Welt in den Griff nehmen wollen. Dabei ist sie freilich kein paradiesischer oder idyllischer Schutzraum gegen den eisigen oder frischen Wind der Emanzipation, keine "Wunschwelt", wie Blumenberg sagt, sondern eher Ausdruck einer "Benommenheit" oder Verlegenheit: dass wir irgendwo herkommen und uns erst nachträglich Gedanken darüber machen. Dann nämlich, wenn das Leben durcheinander gerät: "Wir denken, weil wir dabei gestört werden, nicht zu denken." Eine Theorie der Lebenswelt - auch diejenige Blumenbergs - trägt immer Züge eines Nachrufs: Sie handelt von einer Welt, die man theoretisierend doch schon verlassen hat.
Vieles, das in diesem Buch steht, ist Lesern Blumenbergs geläufig. Wer es kennt, wird sein behutsames Plädoyer für die Selbstbeschränkung und Selbsterhaltung der Vernunft auch in diesem Buch wiederentdecken; wer es mag, wird es sich nochmals anhören. Und doch fühlt man sich durch manches neu belehrt - und auch noch gut unterhalten.
Erhellend ist zum Beispiel, wie Blumenberg die "Lebenswelt" gegen eine andere Urwelt ausspielt: gegen den "Naturzustand", in dem sich die Menschen einmal befunden haben sollen. Ihn haben die Philosophen immer gerne benutzt, um dagegen das Bild der Moderne grell ins Licht zu setzen. Blumenberg unterzieht diesen Einsatz von Kontrastmitteln einer beißenden Kritik. So führt er die einen vor, die - wie Thomas Hobbes - einen Naturzustand postulieren, der nur mit Heulen und Zähneklappern zu ertragen ist; da erscheint die Antinatur, die Welt der Verträge und Verordnungen, schon wie der sichere Sieger.
Den umgekehrten Trick wenden nach Blumenberg jene an, die - wie Rousseau, der "Ahnherr" der "Rührigkeiten" - den "Naturzustand" in den blühendsten Farben schildern, um dann umgekehrt die Welt, die danach kommt, als sicheren Verlierer erscheinen zu lassen. Auch wenn Blumenberg den armen Rousseau allzu schlecht wegkommen lässt, ist er doch im Recht, wenn er zu all jenen gewollten Kontrasten auf Abstand geht und sich Fortschrittsfanatiker und Kulturkritiker aller Couleur gleichermaßen vom Leib hält. Er wählt einen anderen Leitfaden, um die Wege zu beschreiben, die aus den Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt herausführen. Dieser Leitfaden ist der Begriff der Generation, die Idee vom spannungsvollen Übergang mit offenem Ausgang, die Blumenberg sogar mit den Mitteln der Geschlechtertheorie entwickelt.
Erhellend und auch unterhaltsam sind die Miniaturen, die Blumenberg als Beispiele von Lebenswelten ausmalt. Er ist sich nicht zu schade, dem "Aquarienfreund" und dem "Hippie" einen Auftritt zu verschaffen; auch macht er sich lustig über jene bornierten "Lebenswelten", die in Universitäten entstehen können. So beschreibt er, wie "akademische Schulen" mit der Einnordung auf angebliche Selbstverständlichkeiten ihre eigene Verdummung betreiben oder wie die "Regelungsdichte" des Studiums so weit erhöht wird, dass in "modernen Spätkulturen" ein Zustand von Gedanken- und Erfahrungslosigkeit etabliert wird, von dem "primitive" Kulturen noch nicht einmal geträumt hätten. Man darf behaupten, dass solche Effekte heute häufiger auftreten als in den siebziger Jahren, als Blumenbergs Manuskript wohl entstanden ist.
Manches weiß man heute freilich besser als damals - so etwa, "wann und wo der Begriff ,Lebenswelt' entstanden ist". Dies bemerkt beiläufig der Herausgeber dieses Bandes, aber warum belässt er es bei diesem dezenten, eher nichtssagenden Hinweis, wenn doch hier das Titelwort in Frage steht? Es wäre keine Majestätsbeleidigung, sondern ein guter Dienst am Leser, wenn ihm verraten worden wäre, dass dieser Begriff nicht, wie Blumenberg noch meinte, 1924 von Husserl erfunden wurde, sondern schon früher von ihm wie auch einigen anderen - etwa Simmel und Heidegger - verwendet wurde. Die "Lebenswelt" rückt damit näher an eine Erfahrung heran, die in Blumenbergs Buch seltsamerweise nur eine kleine Nebenrolle spielt: die Erfahrung des Todes und des Krieges. Einige Erläuterungen solcher Art hätten dem Buch gutgetan: Man sollte Blumenberg nicht zur unantastbaren Statue erstarren lassen, sondern als Gesprächspartner am Leben erhalten.
DIETER THOMÄ
Hans Blumenberg: "Theorie der Lebenswelt". Herausgegeben von Manfred Sommer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 253 S., geb., 29,80 [Euro].
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