Jahre analysiert er anhand von zehn unabhängigen Variablen. Einige dieser Variablen kommen auch für längerfristige Analysen in Frage, andere nicht; einige sind leicht und zuverlässig quantifizierbar, andere nicht.
Erstens hängen die Wachstumschancen von der Bevölkerungsentwicklung ab. Je höher der Anteil der Menschen im arbeitsfähigen Alter, desto besser. Zweitens spielt die Reformbereitschaft der Regierungen eine wichtige Rolle, wobei Sharma eine mit der Regierungsdauer abnehmende Reformbereitschaft für häufig oder normal hält. Reformbereitschaft wird im Sinne des Ausbaus der wirtschaftlichen Freiheit der Individuen und Unternehmer verstanden. Drittens ist weniger das Ausmaß der Ungleichheit von Bedeutung als die Art, wie die Superreichen oder Milliardäre ihren Wohlstand erwerben. Schädliche Milliardäre erwerben und sichern ihr Vermögen durch Kooperation mit der Politik, durch Korruption und "Rent-Seeking", oft in der Rohstoff- oder Baubranche, selten oder nie in wettbewerbs- und innovationsintensiven Branchen. Viertens warnt Sharma vor zunehmenden Staatseingriffen, allzu hohen Staatsquoten, Subventionen und staatlichen Banken, die Industriepolitik betreiben.
Fünftens verweist er auf die Bedeutsamkeit der wirtschaftsgeographischen Situation. Günstig ist die Nachbarschaft prosperierender Volkswirtschaften, auch gute Verkehrsanbindung. Für ungünstig hält er die Dominanz einer Stadt. Sechstens sind Investitionen in die verarbeitende Industrie unerlässlich. Ohne starke Industrie kann kein Land mit nennenswerter Bevölkerung der Armut entwachsen. Siebtens darf die Inflationsrate nicht zu hoch sein. Fiskalische Rechtschaffenheit und unabhängige Zentralbanken sind oft hilfreich.
Sharma hat keine Furcht vor Deflation, weil leichte Deflation historisch auch manchmal von Wachstum begleitet war. Die Vermögenspreisentwicklung, vor allem bei Häusern, verdient mehr als das übliche Maß an Beachtung. Achtens ist eher eine unter- als eine überbewertete Währung von Vorteil. Neuntens fragt Sharma, ob die Verschuldung schneller als die Volkswirtschaft wächst. Dabei hält er die Veränderung des Schuldenstandes für wichtiger als den Schuldenstand. Die Verschuldung von Haushalten und Unternehmen ist dabei mindestens genauso wichtig wie die staatliche. Sofern der Schuldenstand in 5 Jahren um 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen ist, hält Sharma eine Krise und Rezession für hochwahrscheinlich. Dieser Tatsache schreibt er mehr Gewicht zu als allen anderen unabhängigen Variablen. Zehntens hält Sharma bewundernde Berichte über eine Volkswirtschaft in der Weltpresse für ein schlechtes Zeichen, weil allzu oft Länder kurz vor der Krise positiv beurteilt worden sind.
Im abschließenden Kapitel beurteilt Sharma die Aussichten der Volkswirtschaften, auch anhand einer Weltkarte zur Übersicht. Positiv beurteilt er die Aussichten der Vereinigten Staaten, Deutschlands, Polens, Tschechiens, Indiens und der meisten seiner Nachbarländer, Vietnams, der Philippinen, Argentiniens und Perus; gemischt oder normal die Frankreichs, Russlands, Chinas, Japans, Brasiliens und Südafrikas; schlecht die der meisten afrikanischen Staaten. Gerade für diejenigen, die auch kleinere Volkswirtschaften beobachten wollen, ist das Buch hochinteressant und gut lesbar.
ERICH WEEDE
Ruchir Sharma: The Rise and Fall of Nations. Forces of Change in the Post-Crisis World. New York: W.W. Norton 2017, 466 Seiten, 17,95 Dollar.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main