Ideen erhalten haben. Der amerikanische Theoretische Physiker, Kosmologe und Saxophonist Stephon Alexander, der an der Brown University in Providence unterrichtet, führt diese Tradition in seinem Buch "The Jazz of Physics" bis an die entlegensten Grenzen heutiger physikalischer Theorien weiter.
Alexander, Sohn eines schwarzen New Yorker Taxifahrers aus Trinidad, spürte zwar schon früh während seiner Schulzeit in der Bronx die Faszination der für ihn fremden Welt der Naturwissenschaften, sah sich genauso aber der Anziehung der ihn in der Bronx umgebenden Musik, des Hiphop der frühen 1980er Jahre, des Soul und schließlich des Free Jazz Ornette Colemans ausgesetzt, der ihn schließlich selbst zur Improvisation am Saxophon führte. Trotz der Aussicht auf eine professionelle Musikausbildung entschloss er sich zu einem Studium an einem naturwissenschaftlichen College, wo sein Physiklehrer und früher Mentor ihn erstmals mit dem Album "Giant Steps" des Jazzmusikers John Coltrane konfrontierte, das Alexander in den folgenden Jahren und Jahrzehnten als "Schall-Äquivalent zu Einsteins Krümmung der Raumzeit" verstehen lernen sollte. Nach weiteren Ausflügen in die Welt des Hiphop trat die Musik während der Zeit seiner College-Ausbildung in den Hintergrund - um dann ab der Zeit der Doktorarbeit in immer intensiveren Dialog mit seinen physikalischen Studien zu treten.
All dies schildert Alexander in seinem vielschichtigen und faszinierenden Buch als Abfolge prägender Begegnungen und wegbereitender Erlebnisse und Einsichten. Von Leon Cooper, dem Nobelpreisträger und Entwickler der Theorie der Supraleitung, lernt er sowohl Fruchtbarkeit wie Grenzen der Übertragung von Denkansätzen in andere Disziplinen. Der Kosmologe und Doktorvater Robert Brandenberger ermutigt ihn, während der Doktorarbeit die Nächte mit experimentellen Jazzperformances zu verbringen - musikalische Erfahrungen, die ihn der Stringtheorie näher bringen, die als Grundbausteine des Kosmos schwingende eindimensionale Objekte postuliert. Die mit der Stringtheorie verwandte Theorie der Supergravitation stürzt Alexander mit ihren mathematisch-handwerklichen Anforderungen als Postdoc am Imperial College in London allerdings zunächst in eine Krise, aus der ihn erst der Quantengravitationstheoretiker Chris Isham einen Weg zeigt, indem er ihn ermuntert, anhand der Musik eine mystische Seite der Physik zu entdecken.
Diese mystische Seite versteht Alexander als Fortführung der Tradition der Pythagoreer - deren Idee einer Einheit von Musik und Astronomie bringt ihn während seiner weiteren Jahre als Postdoc in engen Austausch mit Seelenverwandten wie dem "Klangkosmologen" und musikalischen Visionär Brian Eno oder dem Informatiker und Künstler Jaron Lanier. Letzterer stellt ihm schließlich Ornette Coleman vor, denjenigen Jazz-Saxophonisten, dessen Musik den jungen Alexander ursprünglich für die Kunst der Improvisation begeistert hatte und der ihn nun für die Analogie der freien Improvisation zum Ablauf quantenmechanischer Prozesse empfänglich macht - beides Vorgänge, die trotz ihrer Unbestimmtheit alles andere als beliebig sind.
Auch in der wissenschaftlichen Praxis spielt die Analogie musikalischer Improvisation eine Rolle, wenn Alexander das Üben, sei es das Studium und die Reproduktion klassischer Jazzsoli oder das Verstehen und Lösen klassischer physikalischer Rechnungen, mit dem freien Entwickeln neuer Ideen in freien Diskussionen oder Jazz-Sessions kontrastiert und als deren notwendige Grundlage - und nicht mehr als das - beschreibt.
Für seine eigene Forschung macht Alexander die musikalische Analogiebildung dadurch fruchtbar, dass er "Klänge" und Schwingungen im Universum wiederfindet. Er ist fasziniert von den akustischen Oszillationen der kosmischen Hintergrundstrahlung, derjenigen Strahlung, die den Zustand des Universums 380 000 Jahre nach dem Urknall konserviert und die zeigt, dass der Ursprung kosmischer Strukturen in Schallwellen liegt. Er verweist auf die Ähnlichkeit fraktaler Strukturen der Organisation von Sternen und Galaxien zu Kompositionen von Bach und Ligeti. Er beschreibt die Mächtigkeit des Konzeptes der Resonanz für Inflationstheorien des frühen Universums, die er selbst dafür verwendet, eine Erklärung dafür zu finden, warum es ursprünglich mehr Materie als Antimaterie gegeben hat. Und schließlich führt ihn diese Analogie darauf, das Universum selbst als etwas Schwingendes zu postulieren, als einen Kosmos in ewig-zyklischer Abfolge von Expansion und Kontraktion.
Alexander demonstriert, wie er die Denkweise und die Begriffe der Musik als Schlüssel für Probleme der modernen Kosmologie verwendet. Damit argumentiert er eindrücklich für die kreative Kraft interdisziplinären Denkens. Die Analogiebildung funktioniert hier als erfolgreiche Heuristik, aber ist sie noch mehr als das? An einigen Stellen des Buches scheint es so, insbesondere wenn Alexander auf die Mystik der Physik eingeht, die Chris Isham ihm ans Herz gelegt hatte. Diese zeigt sich insbesondere darin, dass Alexander beim Musizieren Erscheinungen hat oder auch Dinge träumt, die ihn auf Lösungen für Fragen seiner physikalischen Forschung führen. Dazu, was es mit dieser Mystik auf sich hat, ob sie inhaltlich im Widerspruch zum Geltungsanspruch der Naturwissenschaften steht, ob er ihre Effekte rein psychologisch verortet oder sie auf allgemeinere Zusammenhänge in der Welt hinweisen, darüber sagt Alexander in seinem Buch erstaunlich wenig. Dem Leser steht es entsprechend frei, den Kontext der betroffenen Entdeckungen - der wissenschaftstheoretischen Tradition folgend - vom Begründungskontext der wissenschaftlichen Ergebnisse zu trennen. Interessant wäre es dennoch gewesen, hier etwas mehr zu erfahren. Vielleicht ist es aber auch Absicht, den Lesern den Raum für eigene gedankliche Improvisationen zu gewähren, ohne sie durch präzise erkenntnistheoretische Analysen einzuengen. Vielfältige Anregungen dafür bietet dieses Buch.
Stephon Alexander: "The Jazz of Physics". Die Verbindung von Musik und der Struktur des Universums.
Eichborn Verlag, Köln 2017.
333 S., geb., 25,- [Euro].
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